| # taz.de -- Hype um Audio-App „Clubhouse“: Die Idee der Entbündelung | |
| > Das soziale Netzwerk Clubhouse erfährt einen Hype. Dabei schafft die | |
| > Audio-App keine Innovation – sondern bloß alte Gefahren neu verpackt. | |
| Bild: Die gehypte App „Clubhouse“ lässt einen nicht nur bei Talks zuhören… | |
| Es ist nur ein paar Wochen her, da waren die Tweets und Facebookposts fast | |
| aller deutscher Meinungsmenschen plötzlich durchsetzt von einem Wort: | |
| [1][Clubhouse. Das neue soziale Netzwerk] erlaubt es, bei Live-Gesprächen | |
| zu lauschen – wie im Radio – oder sogar mitzumachen – wie meistens nicht … | |
| Radio. Seitdem wurde viel diskutiert über [2][die Qualität der Gespräche] | |
| und den Stress, den ein weiteres soziales Netzwerk mit sich bringt. Doch | |
| die App verdient schon allein deshalb Aufmerksamkeit, weil sie eine | |
| Strategie fortsetzt, mit der in den letzten zwei Jahrzehnten und meist von | |
| US-amerikanischen Start-ups eine etablierte Industrie nach der anderen | |
| umgekrempelt wurde: das „Entbündeln“. | |
| „Ich kenne nur zwei Arten, Geld zu verdienen: bündeln und entbündeln“ | |
| lautet ein im Silicon Valley berühmter Satz von Jim Barksdale, ehemaliger | |
| CEO des Browserpioniers Netscape und damit einer der Weichensteller der | |
| modernen Internetökonomie. Und die hat seitdem vor allem mit der | |
| Entbündelung bewährter, nicht digitaler Produkte sehr viel Geld verdient. | |
| Die Idee ist so simpel wie bestechend und lässt sich am Beispiel von Medien | |
| gut erklären. | |
| Nehmen wir das Produkt „Zeitung“. Die Zeitung ist in ihrer analogen Form | |
| zwangsweise ein Kompromiss, denn der Platz für Inhalte ist begrenzt. Der | |
| logistische Aufwand für Druck und Vertrieb verhindert außerdem jede Art von | |
| Individualisierung. Auch wenn ich mich nur für den Politikteil | |
| interessiere, bekomme ich den ganzen Rest mit dazu: gebündelt. Ein Angebot, | |
| das immer nur die größtmögliche Schnittmenge aus allen Interessen bieten | |
| kann. | |
| Ähnlich verhält es sich beim Fernsehen oder beim Radio, wo in maximal 24 | |
| Stunden und auf je einer Frequenz ein Angebot stattfinden muss, das die | |
| größtmögliche Menge an Zuschauer*innen erreicht: mit ein paar | |
| Nachrichten, ein wenig Unterhaltung, viel Musik und etwas Verkehrsfunk. Ein | |
| bisschen für jeden, aber für keinen alles. | |
| [3][Dieses Bündeln hat durchaus Vorteile.] Erst durch diese Strategie wird | |
| die klassische Zeitung überhaupt finanzierbar. Es hat aber auch diverse | |
| Nachteile. So leiden im Bündel oft jene Inhalte, die als schwerer | |
| konsumierbar gelten. Die im Zweifel ein bisschen schlauer sind, ein | |
| bisschen abseitiger und ein bisschen tiefgängiger: lange Reportagen in | |
| Zeitungen oder im Radio, komplexe Dokumentarfilme oder Serien im Fernsehen. | |
| Beim aktuellen Boom von Podcasts und Serien vergisst man schnell, dass | |
| viele davon in einer Form daherkommen, die praktisch in ihrer gesamten | |
| vorherigen Geschichte konstant zu Grabe getragen wurde. In der analogen | |
| Zeit hat es niemand je geschafft, damit dauerhaft Geld zu verdienen. | |
| ## Die Nichtlinearität des Internets | |
| Bis plötzlich Leute wie Jim Barksdale und seine Nachfolger*innen in der | |
| Wagniskapital-Maschinerie des Silicon Valley begannen, mit ihrer Idee der | |
| Entbündelung auf eine wichtige Neuerung zu reagieren: die Nichtlinearität | |
| des Internets. Platz war plötzlich unendlich und alles gleichzeitig | |
| abrufbar, bei verschwindend geringen Distributionskosten. Der einst gute | |
| Kompromiss der alten Medienbündel wurde immer mehr zum Anachronismus. Warum | |
| die „Tagesschau“ aussitzen, wenn ich bloß den Krimi schauen will? Warum | |
| Radiointerviews ertragen, wenn ich Musik hören will? | |
| Als das Entbündeln von Zeitungen begann, kamen als Erstes die Bestandteile | |
| mit dem niedrigsten inhaltlichen Wert an die Reihe: Stellen- und | |
| Kleinanzeigen. Denn es ist hundertmal praktischer, „Damenrad 55 Zoll“ in | |
| eine Suchmaske zu tippen, als den Finger über eine Zeitungsseite in | |
| winziger Schrift gleiten zu lassen. Die Kleinanzeigen, lange eine | |
| verlässliche Geldquelle für Verlage, wanderten also in ein anderes Medium: | |
| ins Onlineportal. | |
| Man könnte nun vermuten, dass Entbündelung als Strategie immer dann | |
| funktioniert, wenn sie den Konsum von Dingen erleichtert, die in ihrer | |
| gebündelten Form schwerer zugänglich waren oder qualitativ schlechter. Es | |
| gibt aber auch Beispiele für das genaue Gegenteil: die ins Smartphone | |
| gebündelte Taschenlampe zum Beispiel ist in der Regel schlechter als selbst | |
| das günstigste Modell vom Baumarkt – das man aber natürlich nie dabei hat, | |
| wenn man nachts seinen Schlüssel fallen lässt. Welche Strategie wann | |
| gewinnt, das Bündeln oder das Entbündeln, hängt oft vom Markt ab, von der | |
| technischen Entwicklung oder schlicht von Moden. Der Effekt ist aber fast | |
| immer: ein Umbruch der beteiligten Branchen. | |
| Ein Netzwerk wie Clubhouse ist deshalb nicht isoliert zu betrachten, | |
| sondern als weiterer Schritt in der Entbündelung etablierter Medienformen. | |
| Das Radio ist in dieser Hinsicht längst schon viel gebeutelter als | |
| gemeinhin gedacht: In Spotify mögen viele vor allem einen Neuentwurf der | |
| klassischen Plattenindustrie sehen; in Podcasts eine Renaissance der | |
| Audioerzählung – doch bei beidem wird ganz nebenbei auch eifrig das Radio | |
| entbündelt. | |
| Viel Hass, viel Fragwürdiges | |
| Genau wie die linearen TV-Sender längst ihre schlauesten Serien- und | |
| Filmfans an Netflix und Sky verloren haben, hat das Radio die meisten | |
| seiner Musikfans längst an Spotify-Playlisten verloren und wundert sich nun | |
| über Millionen Fans der Audioreportage, wo derer früher eher mal hundert | |
| bei Nacht eingeschaltet haben. Selbst der Verkehrsfunk wird inzwischen | |
| abgeschafft. Es wird zwar immer noch Auto gefahren, aber die | |
| Navigationssysteme und -apps denken Staumeldungen inzwischen mit. Die | |
| Verkehrsmeldung wurde also ent- und woanders wieder gebündelt. | |
| Clubhouse wagt sich nun an den wohl letzten noch nicht entbündelten | |
| Bestandteil des Radios: den Live-Talk. In einer hübschen App diskutieren | |
| Menschen rund um die Uhr zu praktisch jedem Thema, man kann den besten, | |
| klügsten, witzigsten Menschen ihres Fachs zuhören – zudem ist das Ganze | |
| flink durchsuchbar und macht Vorschläge gemäß den individuellen Interessen | |
| der Nutzer*in. Aber, natürlich auch: mit allen Nachteilen. Es gibt viel | |
| Hass, viel Sexismus, viel Fragwürdiges. | |
| Kaum vorzustellen, dass eine App wie Clubhouse nicht ihren festen Platz | |
| findet im weltweiten Medienkonsum. Es ist auch bezeichnend, dass einer der | |
| größten Investoren des neuen Audionetzwerks Marc Andreessen ist. Andreessen | |
| hat als Anfang-20-Jähriger Netscape gegründet und stand direkt neben Jim | |
| Barksdale, als der zum ersten Mal vom Entbündeln sprach. Andreessen sitzt | |
| außerdem im Aufsichtsrat von Facebook. Clubhouse mag gerade noch ein Image | |
| als nette Underdog-App haben, aber hier arbeiten Menschen am nächsten | |
| Megakonzern. | |
| Und damit wird aufs Neue ein zwar regulierter, aber im Prinzip offener | |
| Markt ersetzt durch eine komplett privatwirtschaftliche Plattform. Eine, | |
| die scheinbar offen daherkommt – jeder kann mitmachen! – aber letztlich ein | |
| Silo ist. Die keine einzige neue Idee mitbringt, wie sie all die Probleme | |
| angehen will, die bereits die älteren sozialen Netzwerke überfordern. Man | |
| muss weder Innovationskraft noch Unternehmer*innentum verteufeln, um | |
| zu merken, dass wir als Gesellschaft hier die falschen Anreize setzen. Und | |
| dass es Zeit ist, über mehr Regulierung zu sprechen. | |
| 16 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Stuckmann | |
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