# taz.de -- Biker über seine Gewalterfahrung: „Es war wie eine schwarze Wand… | |
> Heli Lill protestiert in einer Plakatkampagne gegen häusliche Gewalt – | |
> weil er sie als Kind erlebt hat. Hilfe bekam er damals nur wenig. | |
Bild: Heli Lill heißt mit Vornamen eigentlich wie sein Erzeuger, hat den Namen… | |
taz: Heli, seit Sonntag ist Ihr Bild auf Plakaten im ganzen Land zu sehen. | |
Was ist das für ein Gefühl? | |
Heli Lill: Was die breite Öffentlichkeit angeht, habe ich ein gutes Gefühl. | |
Das Plakat will etwas Wichtiges ausdrücken, und ich kann mich daran | |
beteiligen. Wenn ich auf mein engeres Umfeld gucke, fällt es mir nicht so | |
leicht, mich zu outen. Ich habe Angst vor Gerede oder davor, in eine | |
Schublade gesteckt zu werden. Trotzdem finde ich es wichtig, mitzumachen, | |
und meine Kinder finden mich mutig. | |
Das Plakat ist Teil einer Kampagne gegen häusliche und sexualisierte | |
Gewalt. Darauf tragen Sie eine Lederweste mit dem Abzeichen des | |
Motorradclubs „Kuhle Wampe“, drunter steht „Was männlich ist, entscheide… | |
du.“ Was ist männlich für Sie? | |
Ich bin männlich. Männlich ist, gerecht zu sein, tolerant allen Menschen | |
gegenüber, offen und ehrlich. Vater zu sein, ist männlich. Ich habe zwei | |
Kinder und habe versucht, denen alles mitzugeben, was ich nicht hatte: | |
Bildung, Eigenständigkeit, Kohle. Und Liebe. | |
Wie kamen Sie zu der Anti-Gewalt-Kampagne? | |
Der Landesverband der Frauenberatungsstelle suchte einen Biker und hatte | |
bei „Kuhle Wampe“ nachgefragt. Ich war gleich interessiert, aber erst als | |
niemand anderes sich gemeldet hat, habe ich angerufen und gesagt, dass ich | |
in dem Bereich erfahren bin. Weil das klingen könnte, als würde ich selbst | |
schlagen, habe ich gesagt, dass ich ein Opfer häuslicher Gewalt bin. | |
Wollen Sie erzählen, was Ihnen passiert ist? | |
Mein Erzeuger – ich sage nicht „Vater“, ein Vater kümmert sich, ein | |
Erzeuger nicht – war ein bösartiger Mensch, der Kinder nur mit Schlägen | |
erziehen konnte. Wir alle sind geprügelt worden, bis meine Mutter | |
irgendwann die Reißleine gezogen hat und gegangen ist. Aber dann waren wir | |
in unserem Dorf eine geächtete Familie. Mutter und neun Kinder: Die müssen | |
ja sozial schwach sein. Also schickte man uns alle auf die Sonderschule. | |
Darum sage ich, ich war eigentlich ein Nicht-Schüler. Ich habe später den | |
Hauptschulabschluss nachgemacht und durch meine Lehre auch einen | |
Realschulabschluss. Ich habe oft gelogen und behauptet, ich hätte mehr, das | |
war falsch – aber wenn man die Wahrheit sagt, ist es auch falsch. Oft höre | |
ich, du bist doch ein gestandener Mann, mach dir keine Gedanken, aber ich | |
habe lebenslang das Gefühl, dass mir etwas fehlt. | |
Wie war es, bevor Ihre Mutter Ihren Erzeuger verließ? | |
Es war der Horror. Das Aufwachsen mit vielen Geschwistern ist toll, ich bin | |
der siebte von neun. Wir lebten in einer Siedlung mit vielen anderen | |
Kindern, hatten ein großes Grundstück, auf dem wir Schweine und Hühner | |
gehalten haben. Wir hatten auch einen Hund, der mir wichtig war, aber den | |
hat mein Erzeuger irgendwann ertränkt, keine Ahnung, warum. Wir hatten | |
jeden Tag Angst. Wenn einer was gemacht hat, zum Beispiel in ein Beet zu | |
treten, bekamen alle Schläge. Er hat uns unterm Bett rausgezogen, uns mit | |
einem Schlauch geprügelt. Manchmal auch mit dem Breitgurt seiner Uniform, | |
er war bei der Freiwilligen Feuerwehr. Auch unsere Mutter war oft dran. | |
Wenn es ganz heftig war, haben meine Schwestern aus dem Fenster um Hilfe | |
gerufen, dann kam manchmal die Polizei, aber viel passiert ist nicht. | |
Warum, glauben Sie, war das so? | |
Das waren alle Kumpels, sie kannten sich durch die Feuerwehr, vielleicht | |
waren auch noch alte Nazis dabei. Das ständig zu erleben, ist schlimm, | |
nicht auszuhalten. Ich war geistig nicht da, habe zugemacht, es war wie | |
eine schwarze Wand. Wäre ich totgeprügelt worden, hätte ich das nicht | |
gemerkt. | |
Wie ging es nach der Trennung Ihrer Eltern weiter? | |
Das war 1968, da war ich gerade zur Schule gekommen. Wenn der Erzeuger sich | |
gekümmert hätte, wäre einiges leichter gewesen, aber das hat er nicht. | |
Unsere Mutter war die stärkste und großartigste Frau, die ich kenne – | |
abgesehen von meiner Ehefrau. Aber sie war überfordert. Wir haben vor und | |
nach der Schule beim Bauern gearbeitet oder Zeitungen ausgetragen, um Geld | |
für die Familie zu verdienen. Zum Glück hatte ich gute Lehrer, die mich | |
gefördert haben, und meinen guten Freund Piet, der immer an mich geglaubt | |
und mich bestärkt hat. | |
Gab es mal eine Situation, in der Sie selbst gewalttätig geworden sind? | |
Der neue Partner der Mutter hatte sich in unserem Haus ins Grundbuch | |
schreiben lassen, und als die Beziehung endete, mussten wir das Haus | |
verkaufen. Gegen den Mann habe ich mich als Pubertierender gewehrt. Es war | |
keine Hauerei, eher ein unkontrolliertes Schlagen, aber das geht nicht aus | |
meinen Kopf. Ich habe als Kind entschieden, dass ich nicht so werden wollte | |
wie mein Erzeuger, ich wollte niemanden wehtun. | |
Haben Sie Ihren Erzeuger später zur Rede gestellt? | |
Ich habe versucht, meine Kindheit aufzuarbeiten. Wir saßen auf meiner | |
Terrasse, ich habe ihm gesagt, was er getan hat. Er hat es bejaht, aber | |
kein Zeichen von Reue gezeigt, wie ich es mir gewünscht hätte. Wenn er sich | |
entschuldigt hätte, ginge es mir heute vielleicht besser. | |
Haben Sie Kontakt zu Ihren Geschwistern, sprechen Sie über die Erlebnisse? | |
Wir haben viel Kontakt. Aus uns allen ist, wie man so sagt, etwas geworden: | |
Alle meine Brüder und eine Schwester haben gute Berufe, die anderen | |
Schwestern sind gut verheiratet. Das liegt an unserer Mutter Frauke, die | |
trotz allem eine gute Grundlage für unser Leben geschaffen hat. Wir treffen | |
uns oft, feiern natürlich und reden über viele Dinge, aber eben auch über | |
damals. Je nach Alter erinnern wir unterschiedlich viel. Vor der | |
Plakataktion und diesem Interview habe ich alle gefragt, was sie davon | |
halten. Ich spreche hier nicht nur für mich, sondern für uns alle – für | |
meine Schwestern und Brüder Doris, Marita, Ingelore, Elfriede, Uwe, | |
Reinhard, Jürgen und Sabine. | |
Sie selbst sind Pfleger geworden, eigentlich ein Beruf, den vor allem | |
Frauen ausüben. | |
Im Mittelalter, bei den Kreuzzügen, war es ein Männerberuf! Aber anfangs | |
habe ich als Handwerker gearbeitet. Ich war groß und breit, ein richtiger | |
Kerl, aber ich passte da nicht rein. Ich war beleidigt von dem maskulinen | |
Verhalten und dem Müll, den die Männer erzählt haben. Also bin ich | |
Altenpfleger geworden. Aber die Arbeit wurde immer schlechter, wir mussten | |
viel laufen, es gab keine Achtsamkeit dem Kunden gegenüber. Ich wollte | |
Fahrlehrer werden, hatte auch schon Kurse belegt und sämtliche | |
Führerscheine gemacht, aber am Ende die Lehrerprüfung nicht abgelegt, | |
sondern stattdessen habe ich dann bei einem ambulanten Intensivpflegedienst | |
angefangen. Da betreue ich Schwerstpflegefälle, jeweils nur einen Kunden in | |
dessen eigener Wohnung. | |
Und Sie fahren Motorrad, sind Mitglied bei Kuhle Wampe. Wie sind Sie dazu | |
gekommen? | |
Ich fahre erst seit neun Jahren und suchte einen Club. Im Netz bin ich auf | |
Kuhle Wampe gestoßen und fand es toll, dass die sich gegen Faschismus und | |
für Gerechtigkeit einsetzen. Eigentlich verrückt, dass man das als | |
politische Haltung betonen muss, für mich ist das normal und gesund. Aber | |
ich weiß, es ist schwer für Menschen, andere nicht in Schubladen zu | |
stecken. Jeder wird als groß oder klein, dick oder dünn, schwarz oder weiß | |
gesehen, statt zu sagen: „Hey, schön, dass du da bist!“ | |
Welchen Rat können Sie Menschen geben, die von Gewalt betroffen sind? | |
Es ist schwer, etwas zu raten. Einem Kind würde ich sagen: „Geh weg, wenn | |
du es schaffst.“ Männern, die schlagen, möchte ich sagen: „Guck dir den | |
Menschen vor dir richtig an und hör auf, ihm wehzutun. Hör auf, hör auf.“ | |
15 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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