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# taz.de -- Impfkampagne gegen Corona: Ein Piks für Indien
> In Pune werden Fläschchen gefüllt – Impfstoff made in India. In Mumbai
> steht eine riesige Impfstation. Doch viele Inder haben Angst vor dem
> Vakzin.
Mehr als die Hälfte von Kavita Sawants Team hat den Piks in den Oberarm
gegen das neue Coronavirus bereits bekommen. Die 35-Jährige arbeitet in
einem Mutter-Kind-Zentrum in Mumbais Vorort Santa Cruz. Weil sie und ihre
überwiegend weiblichen Kollegen vom Basisgesundheitsdienst zu Indiens
„Coronakämpfer:innen“ gehören, dürfen sie auch als Erste zusammen mit 30
Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen die kostenfreie Schutzimpfung
erhalten. Danach erst sind ältere Menschen, Risikogruppen und andere
Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes an der Reihe.
Sawant findet es gut, dass die Regierung ihrer Berufsgruppe Priorität
einräumt. „Doch ich habe noch Zweifel“, sagt sie. Sawant möchte abwarten.
„Jetzt sind meine Kollegen und auch meine Vorgesetzten geimpft. Ich werde
sehen, ob es Nachwirkungen gibt, und mich dann entscheiden.“
Für Sawant sind Impfungen eigentlich Routine und gehören zur täglichen
Arbeit. Doch in den sozialen Medien, in Whatsapp-Nachrichten oder im
Fernsehen kursieren viele negative Berichte über angebliche Nebenwirkungen,
die nicht nur die Mutter eines Vierjährigen verunsichern.
Vor knapp drei Wochen, am 16. Januar, hat mit großer Euphorie das
„weltgrößte“ Corona-Impfprogramm begonnen, wie es die indische Regierung
verkündet. Über 3.000 Impfzentren sind aufgebaut worden. Dort kommen zwei
Präparate zur Anwendung, die Anfang Januar eine Notfallzulassung erhalten
haben: Covishield und Covaxin. Seitdem sind mehr als 4,9 Millionen
Inder:innen geimpft worden. Tatsächlich lief das Programm langsamer an
als geplant: Die Pläne sehen vor, dass bis Ende Juli 300 Millionen Menschen
geimpft werden. Das könnte knapp werden.
Desinformationen und Gerüchte über das indische Impfserum Covaxin, das noch
vor dem Ende der klinischen Tests eine Notfallzulassung erhielt, sind das
eine Problem. Andererseits gab es anfangs Schwierigkeiten mit der
Impfplattform CoWIN.
Premier [1][Narendra Modi] lässt sich davon nicht beirren. Er lobt, dass
Indien bisher schneller impfe als jedes andere Land und dass dies ein
Symbol für seine Selbstständigkeit sei. Modi mahnt zudem Politiker:innen,
sich zurückzuhalten und mit ihrer eigenen Immunisierung zu warten, bis sie
an der Reihe sind.
Der Oppositionspolitiker und ehemalige Abgeordnete Pradeep Mathur
kritisierte Modi mit den Worten, dass es besser gewesen wäre, wenn dieser
sich selbst öffentlich hätte impfen lassen, um Vertrauen in der Bevölkerung
zu schaffen, ähnlich wie US-Präsident Joe Biden.
Im Gesundheitszentrum von Santa Cruz ist dieses Detail nicht so wichtig.
Doch auf den Straßen von Mumbai könnte es durchaus einen Unterschied
machen, wenn Politiker:innen und Prominente sich impfen lassen, um
„Menschen zu motivieren“, glaubt Sawant.
## Weniger Infizierte, weniger Interesse am Impfen
Viele Menschen in Indien sind sich sicher: Wer Corona bisher überlebt hat,
besitzt ein starkes Immunsystem und muss nicht unbedingt die gefürchteten
Nebenwirkungen einer Impfung in Kauf nehmen. Die anfängliche Angst vor dem
Virus hat deutlich nachgelassen, seitdem die Infektionsrate in Indien
gesunken ist. Dennoch gelten weiterhin Schutzmaßnahmen wie ein stark
eingeschränkter internationaler Luftverkehr und Tests nach der Einreise aus
Risikogebieten.
Dass gut betuchte Inder:innen unterdessen [2][Impfreisen in die USA,
nach Großbritannien] oder Dubai planen, davon ahnt Gesundheitsmitarbeiterin
Sawant nichts. Denn nicht alle nehmen Corona auf die leichte Schulter.
Indien hat in der Vergangenheit große Erfolge mit Impfkampagnen wie jener
gegen die Kinderlähmung verbuchen können. Frauen wie Kavita Sawant haben
daran ihren Anteil. Dennoch ist die Corona-Impfaktion für das Land eine
große Herausforderung. Denn dafür müssen die kleinen Glasfläschchen mit dem
Impfstoff, in der Fachsprache Vials genannt, erst einmal produziert werden
und sicher bei den Impfstationen ankommen.
Diese Verteilung erfolgt landesweit über vier Zentren. Mumbai im Westen des
Landes ist eines davon. Insgesamt gibt es 37 staatliche Impfstofflager und
29.000 Kühlkettenstationen. Manche Chargen kommen aus dem südindischen
Hyderabad, doch ein Großteil des Impfstoffs wird aus dem von Mumbai 160
Kilometer entfernten Pune angeliefert.
## In der Fabrik: 400 Flaschen pro Minute
Hier wird der vom britisch-schwedischen Konzern [3][AstraZeneca]
entwickelte Impfstoff produziert. In Indien ist er unter dem Namen
[4][Covishield] bekannt. Auf dem weitläufigen Gelände des [5][Serum
Institute of India] (SII) ist ein Trakt für die Produktion umgerüstet
worden. Im Erdgeschoss werden hinter Glaswänden 400 Fläschchen pro Minute
in einem automatischen Prozess mit dem Impfstoff befüllt. Eine meterlange
Maschine, ein sogenannter Produktionsisolator, wird dabei mit Tabletts mit
noch leeren Ampullen gefüttert. Im Inneren werden sie zunächst gereinigt.
Von außen können die Fläschchen nun nur noch über Handschuheingriffe
berührt werden. Ein Mitarbeiter kontrolliert den Prozess über die Anzeige
eines Außenmonitors.
Die schnellen Bewegungen der Fläschchen erzeugen ein Klackern im Takt. In
der gleichen Maschine werden die Ampullen befüllt, keimfrei versiegelt und
sterilisiert. Ein Förderband transportiert sie in einen zweiten Raum,
nachdem die Fläschchen verschlossen worden sind. Dort werden sie von mit
Mund-Nasen-Schutz, weißen Ganzkörperanzügen, langen Handschuhen und
Spezialschuhen eingehüllten Mitarbeitern in weiße Kartons gepackt.
Ihre grüne Versiegelung haben die Fläschchen bereits erhalten. Die
Etiketten mit dem Namen „Covishield“ bekommen sie erst nach einer weiteren
Prüfung. Schon jetzt ist eine Anlage mit der Produktion für Covishield im
Vollbetrieb. Damit lassen sich in einem Durchlauf 240.000 Ampullen, die 2,4
Millionen Impfdosen entsprechen, herstellen. Weitere Produktionsanlagen
sollen in den kommenden Monaten fertiggestellt werden.
„Derzeit produzieren wir 50 bis 60 Millionen Dosen pro Monat. Ab April wird
die Kapazität wahrscheinlich 100 Millionen Dosen erreichen“, sagt Suresh
Jadhav, der Geschäftsführer von Serum Institute of India.
## Enge Kooperation mit AstraZeneca
Die Kooperation mit Großbritannien ist nicht vom Himmel gefallen. „Unsere
Zusammenarbeit mit AstraZeneca begann vor fast fünf Jahren“, erklärt
Jadhav. Damals ging es um die Entwicklung eines Mittels gegen Malaria. Die
Gespräche über die Herstellung des Oxford-Covid-19-Impfstoffs begannen vor
einem Jahr. Schon Ende März 2020 war man sich einig, sagt Jadhav.
Vorstandschef Adar Poonawalla entschied, mit der Produktion in großen
Mengen so bald wie möglich zu beginnen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch
nicht klar war, wie und ob der Impfstoff überhaupt wirken würde.
Vor der Pandemie hatte das von Poonawalla geführte Familienunternehmen
einen Jahresumsatz von umgerechnet 660 Millionen Euro. Bei der Planung der
Corona-Impfstoffproduktion erhielt die Firma Unterstützung in großem Stil.
Die [6][Bill & Melinda Gates Foundation] und die Impfallianz [7][Gavi]
steuerten 300 Millionen Dollar bei. Gavi, eine Stiftung, die das Ziel einer
gerechten weltweiten Verteilung von Impfstoffen verfolgt, reservierte sich
damit schon einmal 200 Millionen Impfdosen. Die Risiken für das indische
Unternehmen waren dennoch groß. Doch es scheint, er habe man beim Serum
Institute of India auf das richtige Pferd gesetzt.
Covishield, das nach Vergabe der zweiten Dosis eine Wirksamkeit von etwas
62 Prozent entfaltet, ist nicht das einzige indische Serum gegen Corona,
das auf dem 50 Hektar großen Campus hergestellt wird. Ein weiterer
vielversprechender Kandidat trägt den Namen NVX-CoV2373, ein Serum des
US-Herstellers Novavax, das im Sommer auf den Markt kommen soll.
An die Geschichte des Unternehmens erinnert ein vor den Toren angebrachtes
altes Logo mit einem schwarzen Pferd. Tatsächlich ist Familie Poonawalla
einst durch ihre Pferdezucht bekannt geworden. Ihre wohlhabenden Vorfahren
gehörten zur ethnisch-religiösen Minderheit der Parsen, die im 19.
Jahrhundert den Iran verließen. 1966 sattelte Vater Cyrus Poonawalla auf
die Produktion von Impfstoffen um. Zunächst setzte man auf ein Mittel gegen
Schlangenbisse und Tetanus. Heute werden hier 1,6 Milliarden Impfdosen
jährlich hergestellt. Es sind vor allem Basisimpfstoffe für Schwellenländer
gegen Tuberkulose, Masern oder Kinderlähmung. Deren Herstellung war für
Firmen aus Industrieländern aufgrund der gering ausfallenden Margen wenig
lukrativ.
Die Lieferschwierigkeiten von AstraZeneca in Europa hat man auch in Pune
verfolgt. Hier produziert man zu 50 Prozent für Indien und zur anderen
Hälfte für die Gavi-Stiftung, die den Impfstoff an 92 Länder mit mittlerem
und niedrigerem Einkommen verteilt. Jede Dosis wird zum Preis von 3
US-Dollar abgegeben.
## Im Impfzentrum von Mumbai
Der große Vorteil der zwei bisher in Indien zugelassenen Impfstoffe besteht
darin, dass sie bei Kühlschranktemperaturen zwischen 2 und 8 Grad Celsius
gelagert werden können. Das wissen die Mitarbeiter in Indiens größtem
provisorisches Krankenhaus in Mumbais Business-Viertel Bandra-Kurla Complex
(BKC) zu schätzen. Hierher kommen täglich etwa 800 Menschen zur
Immunisierung gegen das neue Coronavirus.
Eigentlich ist diese Einrichtung für Coronapatient:innen gebaut
worden. Über 10.000 Menschen wurden in dem Krankenhaus schon behandelt.
Nachdem die Auslastung stark zurückgegangen ist, hat man einen Ruhetrakt in
sicherer Entfernung zur eigentlichen Klinik zu einem Impfzentrum
umfunktioniert. Ein roter Teppich führt ins Reich von Rajesh Dere, dem
Leiter der Einrichtung. Der Mediziner mit leicht gekräuseltem Haar,
Schnauzer und randloser Brille kommt jeden Tag als Erster auf das Gelände
und verlässt es abends als Letzter, so sagt er.
Rechts vom Eingang befindet sich die Registrierung, links sind die
Impfkabinen, die mit grünen Vorgängen geschützt sind. Ganz hinten in einem
großen Zelt hat Dere sein Büro. Zum Sitzen kommt der 64-Jährige kaum, es
gibt viel zu tun. Seitdem er im Coronadienst ist, habe er viele Kilo
abgenommen, sagt Dere.
„Nach dem ersten Impftag haben wir aus technischen Gründen eine Pause
gemacht. An Tag zwei und Tag drei kamen 40 Prozent der Begünstigten“, sagt
Dere. Doch seit dem fünften Tag sei die Zahl der Impfungen immer weiter
gestiegen und sein Team sei bereit, die Kapazitäten noch weiter
hochzufahren. „Wir haben über einhundert medizinische Fachkräfte
ausgebildet, und das Team ist gut eingespielt“, sagt Dere.
Besonders viele Frauen, darunter Schwestern, aber auch Ärztinnen kommen, um
sich impfen zu lassen. Sie müssen gut 30 Minuten dafür einplanen, denn nach
dem Impfen selbst gibt es eine Wartezeit von 30 Minuten unter Beobachtung.
Da die Benachrichtigung über die Impfplattform nicht reibungslos
funktioniert, kommen nun auch Krankenhausmitarbeiter:innen in
Gruppen zur Immunisierung. Noch etwa zwei Wochen, dann kommen die ersten
Menschen mit der zweiten Dosis dran.
Die Impfaktion in Indien hakt an einer anderen Stelle als in Europa. Dort
sind die Impfstoffvorräte knapp, auf dem Subkontinent dagegen sind die
Infektionszahlen rückläufig. Diese eigentlich günstige Entwicklung bereitet
Rajesh Dere Sorgen. Er warnt, dass die Patientenzahlen im Coronatrakt
wieder leicht angezogen hätten, vielleicht auch deshalb, weil Masken und
andere Vorsichtsmaßnahmen immer mehr aus dem öffentlichen Leben
verschwinden. Noch bleibt auch in Mumbais JJ-Krankenhaus die Besucherzahl
konstant gering.
„Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Impfung nicht mehr notwendig ist“,
sagt Dere. Für so manche Inder scheinen Berichte über die Nebenwirkungen
der Impfung wie Gliederschmerzen, Fieber oder Abgeschlagenheit bedrohlicher
zu sein als die Infektion selbst. Rajesh Dere hat sich selbst schon impfen
lassen. Er ist zuversichtlich, dass mehr Menschen in die Impfzentren kommen
werden, sobald sich herumgesprochen hat, dass der Impfstoff sicher ist.
In der 20-Millionen-Metropole Mumbai sind bisher über 11.000 coronabedingte
Todesfälle registriert worden. Landesweit sind es nach offiziellen Angaben
mehr als 154.000. Über 10 Millionen Infektionen hat Indien innerhalb eines
Jahres registriert. Dennoch ist in Mumbais dicht gedrängten Slums der
Alltag längst wieder eingekehrt – mit wenig Masken und Abstand.
Mitarbeit: Mayur Yewele
5 Feb 2021
## LINKS
[1] /Hindu-Nationalist-Narendra-Modi/!5042611
[2] https://www.newsweek.com/hundreds-india-plan-us-travel-tours-get-best-quali…
[3] /Streit-um-Corona-Impfstoff/!5747828
[4] /Impfstart-in-Indien/!5744541
[5] https://www.seruminstitute.com/
[6] https://www.gatesfoundation.org/
[7] https://www.gavi.org/
## AUTOREN
Natalie Mayroth
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