| # taz.de -- Krawalle in den Niederlanden: Die Covid-Zentrifuge | |
| > Die Gewalt in den Niederlanden offenbart Bruchlinien einer Gesellschaft, | |
| > die in der Pandemie drastisch zutage treten. | |
| Bild: Harter Polizeieinsatz gegen eine Demonstrantin, die gegen Coronabeschrän… | |
| Dass sich in einer Krise wie dieser bestimmte Probleme potenzieren, etwa | |
| die Verschlankung des öffentlichen Gesundheitssektors, haben die letzten | |
| Monaten überall gezeigt. In den Niederlanden, wo man ums Millennium herum | |
| besonders lautstark das Credo „Mehr Markteffekt im Pflegebereich“ anstimmte | |
| und nicht lange vor dem Ausbruch der Coronavirus-Varianten noch unrentable | |
| Kliniken geschlossen wurden, wird dies in der Pandemie besonders deutlich. | |
| Die aktuelle Zuspitzung der Lage im Nachbarland – Querfront-Tendenzen, sich | |
| radikalisierende Proteste gegen coronabedingte Maßnahmen und die Welle | |
| nihilistischer Zerstörung zu Wochenbeginn – offenbart die Bruchlinien einer | |
| Gesellschaft, die unter dem Druck von elf Monaten „nieuw normaal“ (der | |
| „neuen Normalität“) besonders drastisch zutage treten. | |
| Umfang und Eigendynamik der jüngsten [1][Gewaltausbrüche] verstellen den | |
| Blick darauf, dass diese vor genau einer Woche ihren Anfang in Urk nahmen. | |
| Das winzige Fischerstädtchen am IJsselmeer, streng calvinistisch und | |
| konsequent gegen die EU eingestellt, ist geprägt von der Mentalität, sich | |
| gegen die feindliche Außenwelt behaupten zu müssen. Schon länger gibt es | |
| hier Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, zuletzt | |
| als wegen der Coronakrise das Feuerwerk verboten wurde. | |
| Die derzeitigen [2][Spannungen in den Niederlanden] sind nicht zuletzt eine | |
| Revolte der Peripherie. So fügen sich die Demonstrationen gegen die | |
| Coronamaßnahmen ins Muster der jüngsten Proteste ein, die ebenfalls vom | |
| platteland kommen oder dort stark unterstützt werden: Bauernbewegung, | |
| Gelbwesten, Klimawandelleugner. Es gibt nicht nur personelle Schnittmengen, | |
| sondern auch solche in Inhalt und Symbolik: die umgedrehte Landesfahne, die | |
| in der Seefahrt einst „Blau-Weiß-Rot, Schiff in Not“ bedeutete und heute | |
| eine Notlage des Landes ausdrücken soll, die feindliche Einstellung zu | |
| Medien, der Hang zum Komplottdenken. | |
| Das Zerstören, Plündern und die Attacken auf Polizisten in dieser Woche | |
| wiederum schließen an zahlreiche Vorfälle der vergangenen Jahre an, bei | |
| denen auch Feuerwehrleute oder Sanitäter von Jugendlichen angegriffen | |
| wurden. Die Symbolik einer Uniform, egal welcher, ist dabei offenbar Anlass | |
| genug, um ins Visier zu geraten. Ein simples Reaktionsschema, doch Ausdruck | |
| einer tiefen Entfremdung zwischen dem Staat und einem Teil seiner zivilen | |
| Bevölkerung. | |
| Freilich gibt es auch innerhalb Letzterer immer stärkere | |
| Spaltungstendenzen. In dem seit Jahren schwelenden Konflikt um die | |
| rassistische Brauchtumsfigur des Zwarte Piet etwa gehören Gewalt und | |
| Drohungen inzwischen zu den gängigen Diskurstechniken. Im Sommer machten | |
| die „Black Lives Matter“-Kundgebungen schmerzhaft das Konfliktpotenzial der | |
| unaufgearbeiteten [3][Kolonialvergangenheit] klar. | |
| Diese Entwicklungen stehen in Wechselwirkung mit dem Zerfall der einstigen | |
| sozialdemokratischen Milieus. Seit 20 Jahren zieht es viele aus der weißen | |
| Unterschicht zu den Rechtspopulisten. Jene, deren Vorfahren als | |
| Gastarbeiter kamen, tendieren zusehends zu sogenannten migrantischen | |
| Parteien, die sich gerne links und „multikulturell“ geben, bisweilen aber | |
| eine bedenkliche Nähe zur türkischen AKP oder anderen islamistischen | |
| Akteuren pflegen. In beiden Fällen werden Identität und Herkunft zum | |
| bestimmenden politischen Faktor. | |
| All diese Entwicklungen haben Ursachen, die weit hinter den Beginn der | |
| Pandemie zurückreichen. In einer derart zerklüfteten Gesellschaft jedoch | |
| erweist diese sich als Zentrifuge: Sie verstärkt die Tendenz zum Rückzug in | |
| die eigene Nische mit ihren Denkbildern und Erklärungsmustern. Wenn im | |
| weiteren Verlauf der Krise, zumal nach den Parlamentswahlen Mitte März, | |
| Verteilungsfragen gestellt werden, werden sich diese Konflikte weiter | |
| verschärfen. Der nun beginnende Wahlkampf wäre der beste Zeitpunkt, dem | |
| entgegenzuwirken. | |
| 30 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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