# taz.de -- Wohnungsnot in Berlin: Noch keine Herdenimmunität | |
> Inkonsequent und ambivalent ist Berlin bei seiner Politik gegen | |
> Mietsteigerungen und Wohnungsnot. Sogar New York macht's besser! | |
Bild: Muss man sich auch leisten können: Wohnungsneubau in Berlin | |
Für Mieter*innen sind die Verhältnisse auf dem Berliner Wohnungsmarkt, | |
gelinde gesagt, unter aller Sau. Dabei ist der Anspruch auf Wohnen ein | |
Menschenrecht, das im Artikel 31 der Europäischen Sozialcharta verankert | |
ist. Demnach verpflichtet sich Deutschland, Zugang zu Wohnraum mit | |
ausreichendem Standard zu fördern, Obdachlosigkeit vorzubeugen und die | |
Wohnkosten auf eine sozialverträgliche Weise zu gestalten. | |
Wer hier in der Hauptstadt eine Unterkunft zur Miete oder Untermiete sucht, | |
wird wiederum eines feststellen: Die fromme Menschenwürde muss sich | |
hintanstellen, da die freie Marktwirtschaft Vorrang genießt. Gemäß der | |
Maxime der Maximierung haben etliche Berliner Immobilienunternehmen ihre | |
Briefkästen sogar längst nach Brandenburg umgesiedelt. Denn ebenda in | |
stadtnahen Steueroasen wie [1][Zossen] und Höhenland müssen sie als | |
Gewerbesteuer nur den Mindesthebesatz entrichten, während in Berlin mehr | |
als das Doppelte fällig wäre. Gleichzeitig verfügen sie nach wie vor über | |
die Berliner Objekte, die durch Umwandlung in Eigentumswohnungen oder durch | |
Wuchermieten weiterhin höchst effektiv als Waffen gegen den Zusammenhalt | |
der Allgemeinheit eingesetzt werden. | |
Selbstverständlich darf man nicht alle Eigentümer*innen über einen | |
Haufen werfen. Es gibt welche, die anständig handeln. Aber Spekulant*innen, | |
die Häuser besitzen, sind schlimmer als Spontis, die Häuser besetzen. Sie | |
sind nicht nur asozial, sondern sie verwüsten ganze Stadtteile schneller, | |
als mietnomadische Messis es tun könnten. Sie halten die Hand unverschämt | |
auf, sie werden subventioniert, sie leben auf Kosten des Gemeinwohls. | |
Eigentum verpflichtet: So heißt es nicht etwa im „Kommunistischen | |
Manifest“, sondern in Artikel 14 des Grundgesetzes der Bundesrepublik. | |
Leider fühlen sich einige Akteur*innen lieber dem Eigentum verpflichtet. | |
Als vor einem Jahr der Berliner Mietendeckel mit großem Tamtam in Kraft | |
trat, wehrten sich CDU und FDP mit Händen und Füßen dagegen. Sie warnten, | |
eher reflexhaft als reflektiert, vor einer bevorstehenden Enteignungswelle. | |
Natürlich ist es ihr demokratisches Recht, die Verfassungsmäßigkeit des | |
Gesetzes prüfen zu lassen. Zudem ist es richtig, dass Artikel 17 der | |
Menschenrechtscharta auch den Schutz des Eigentums vor willkürlichem | |
Verlust garantiert. Trotzdem müsste die schwarzgelbe Schmerzgrenze nicht | |
unbedingt als Maßstab verwendet werden. Denn feudalistische Auffassungen | |
von Besitzansprüchen und Anrechten sind kaum dafür geeignet, die | |
großstädtische Wohnungsmisere des 21. Jahrhunderts zu lösen. | |
## Mittelschicht schwindet | |
Fakt ist, seit 2008 haben die Berliner Quadratmeterpreise bzw. | |
Bodenrichtwerte um mindestens [2][870 Prozent] zugenommen. Infolgedessen | |
haben sich die Berliner Mieten mehr als verdoppelt, während das | |
durchschnittliche Einkommen der Berliner*innen um weniger als 25 | |
Prozent angestiegen ist. Die ohnehin hauchdünn gewordene Mittelschicht | |
schwindet seit Corona umso rascher dahin, die Zahl der erwerbstätigen Armen | |
und Arbeitslosen steigt wie die Infektionsrate. „Wie hier mit Grund und | |
Boden spekuliert wird, ist schlichtweg unanständig“, kritisiert selbst der | |
Regierende Bürgermeister Michael Müller, SPD, mit gehöriger Schärfe. | |
Aber auch viele Kleinvermieter*innen und Hauptmieter*innen müssten | |
eins auf den Deckel kriegen: die, die wie selbstherrliche Slumlords zu | |
rabiaten, rechtsbrüchigen Mitteln greifen, um unliebsame Mieter*innen | |
loszuwerden: Heizung im Winter abstellen, Post unterschlagen, Schindluder | |
mit der Kaution treiben. Und warum beträgt die gesetzliche Kündigungsfrist | |
bei möblierten Zimmern in von Hauptmieter*innen selbst bewohnten | |
Wohnungen nur zwei Wochen? | |
So oder so muss ein holistisches, kohärentes Konzept her. Zur Erinnerung: | |
Kaum wurde das „MietenWoG“ vom Abgeordnetenhaus verabschiedet, da wurde die | |
besetzte Liebig34 mit unverhältnismäßiger Gewalt geräumt. Was nützt es, | |
wenn ein Organ des Staates Wohngerechtigkeit verspricht, während andere | |
Menschen sogar inmitten einer Pandemie Mieter*innen auf die Straße | |
setzen und so die Gentrifizierung weiter grassieren lassen? | |
Zum Vergleich: Selbst in New York gibt es wegen der Coronakrise ein seit | |
Juni 2020 fortwährendes Moratorium für Zwangsräumungen. Mal ein | |
konstruktives Beispiel aus der Heimat der Wall Street. | |
Was spräche dagegen, auch hier die Wohnungsnot in Angriff zu nehmen, als | |
wäre sie ein Virus? Denn das ist sie längst, und von Herdenimmunität kann | |
keine Rede sein. | |
23 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Steuerparadies-Zossen/!5596487 | |
[2] https://gruene.berlin/beschluesse/mietenwahnsinn-stoppen-fuer-eine-neuausri… | |
## AUTOREN | |
Michaela Dudley | |
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