| # taz.de -- Urteil im Lübcke-Prozess: Die halbe Härte des Rechtsstaates | |
| > Der Hauptangeklagte Stephan E. wird zu lebenslanger Haft verurteilt, ein | |
| > Mitangeklagter freigesprochen. Für die Hinterbliebenen ist es eine | |
| > Enttäuschung. | |
| Bild: Stephan E. wird wird vor der Urteilsverkündung in den Gerichtssaal gefü… | |
| FRANKFURT AM MAIN taz | Irmgard Braun-Lübcke senkt still den Blick, [1][als | |
| Richter Thomas Sagebiel sein Urteil verkündet]. Ihre Söhne, Christoph und | |
| Jan-Hendrik, links und rechts neben ihr, blicken versteinert. Lebenslange | |
| Haft wegen Mordes für Stephan E. Für den Mann, dem die Lübckes seit 45 | |
| Prozesstagen im Saal 165 gegenübersitzen. Den Mann, der ihren Ehemann und | |
| Vater in der Nacht des 1. Juni 2019 erschoss. | |
| „Wir wissen, dass wir Ihren Verlust kaum ermessen können“, wendet sich | |
| Sagebiel an die Familie. „Dass dieses Verfahren sehr schwer und schmerzhaft | |
| für Sie war.“ Aber, so der Richter: Auch für seinen Senat sei das Verfahren | |
| schwer gewesen, man habe sich um einen fairen Prozess bemüht. Da schüttelt | |
| Christoph Lübcke nur noch den Kopf. | |
| Und dann verkündet der Richter auch noch einen Freispruch: für [2][Markus | |
| H., den Mitangeklagten, auch er ein Rechtsextremist]. Dass H., wie | |
| angeklagt, psychische Beihilfe zu dem Mord geleistet hat oder dass er – wie | |
| die Lübckes glauben – gar beim Mord dabei und Mittäter war, sei nicht | |
| nachzuweisen. „Wenn noch Zweifel bestehen, hat das Gericht zugunsten des | |
| Angeklagten zu entscheiden“, verweist Sagebiel auf den Grundsatz „In dubio | |
| pro reo“. Einzig für einen Waffenverstoß wird der 44-Jährige verurteilt, zu | |
| anderthalb Jahren Haft auf Bewährung. | |
| Und noch einen Freispruch verkündet Sagebiel. Für einen [3][Messerangriff | |
| auf den Iraker Ahmed I]., der nun ebenfalls im Saal sitzt. Diese Tat soll | |
| Stephan E. laut Anklage bereits am 6. Januar 2016 verübt haben. Und auch | |
| sie sei nicht zweifelsfrei nachweisbar, sagt Sagebiel. Auch Ahmed I. starrt | |
| konsterniert in den Saal. Für die Familie Lübcke und für Ahmed I. ist es | |
| ein enttäuschender Ausgang dieses Prozesses. Einer, der den Regeln des | |
| Rechtsstaats folgen mag. Aber einer, der den Schmerz der Betroffenen nicht | |
| lindern wird. | |
| ## Ein historischer Prozess | |
| Und auch die Angeklagten lassen keine Regung erkennen. Stephan E., der den | |
| Prozess von Beginn an wie eingefroren an sich vorbeiziehen ließ, blickt | |
| auch jetzt starr in den Raum. Der 47-Jährige hat das Urteil wohl kommen | |
| sehen. Und auch Markus H., der zuvor immer wieder provozierend grinste, zu | |
| den Vorwürfen aber beharrlich schwieg, verzieht nun keine Miene. | |
| Seit Juni 2020 war im Oberlandesgericht Frankfurt am Main über die Tötung | |
| von Walter Lübcke verhandelt worden. Ein historischer Prozess: Es ist der | |
| erste rechtsextreme Mord an einem Politiker seit Bestehen der | |
| Bundesrepublik. | |
| Schon in der Nacht vor dem Urteilstag warten JournalistInnen vor dem | |
| Gericht, um einen der raren Plätze zu ergattern. Auch SchülerInnen der nach | |
| dem Mord neubenannten Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen, dem Heimatort des | |
| Getöteten, sind erschienen. Sie tragen ein Banner: „Demokratische Werte | |
| sind unsterblich“. Christoph und Jan-Hendrik Lübcke kommen zu ihnen und | |
| bedanken sich. | |
| Richter Sagebiel, der im Prozess zuvor wortmächtig und direkt auftrat, | |
| unterlässt an diesem Tag jede gesellschaftliche und historische Einordnung | |
| der Tat. Er belässt es vielmehr bei einem kurzen Vorwort, in dem er betont, | |
| dass Freisprüche nicht immer bedeuteten, dass man von der Unschuld der | |
| Angeklagten überzeugt ist. Dann rattert er, im Wechsel mit Mitrichter | |
| Christoph Koller, drei Stunden lang die Urteilsbegründung herunter. | |
| ## Widersprüchliche Geständnisse | |
| Dass der Hauptangeklagte Stephan E., ein langjähriger, einst notorisch | |
| gewaltbereiter Rechtsextremist, verurteilt werde, stand außer Zweifel. Am | |
| Hemd von Walter Lübcke fand sich seine DNA, ebenso am Tatrevolver. Und nach | |
| seiner Verhaftung gestand er die Tat auf eigenen Wunsch ohne Anwalt: Er | |
| habe Lübcke auf dessen Terrasse erschossen – aus jahrelang aufgestautem | |
| Hass, weil dieser Gegner einer Asylunterkunft im Oktober 2015 kritisiert | |
| hatte. | |
| Dann aber zog E. das Geständnis zurück und sagte, sein Kumpel Markus H. | |
| habe geschossen, man sei zu zweit am Tatort gewesen. Im Prozess dann | |
| Variante drei: Er habe doch geschossen, aber H. sei dabei gewesen und habe | |
| ihn zur Tat „aufgehetzt“. | |
| Über Tage sagte E. im Prozess aus, gab sich reuig und beteuerte, er wolle | |
| aus dem Rechtsextremismus aussteigen. Seine Verteidiger forderten deshalb | |
| ein mildes Urteil, ohne besondere Schwere der Schuld, ohne | |
| Sicherungsverwahrung. Die Tat sei auch kein Mord, [4][sondern nur ein | |
| Totschlag], (da sie nicht heimtückisch geschah und E. irrig dachte, er | |
| handele im Sinne einer – asylfeindlichen – Allgemeinheit). Und schließlich | |
| habe Sagebiel selbst versprochen, ein Geständnis werde sich lohnen. | |
| „Dabei bleibe ich“, sagt der Richter. So würden E. über ein | |
| Aussteigerprogramm ja nun Hilfen angeboten. Dennoch verkündet Sagebiel die | |
| Höchststrafe, erklärt neben der lebenslangen Haft eine besondere Schwere | |
| der Schuld, dazu eine vorbehaltliche Sicherungsverwahrung. E. trage einen | |
| tief verinnerlichten Rechtsextremismus in sich, er sei „für die | |
| Allgemeinheit gefährlich“, weitere Straftaten zu befürchten. | |
| ## Der Mitangeklagte scherzt mit der Anwältin | |
| Die Richter machen klar, dass sie nur seinem ersten Geständnis glauben, in | |
| dem er sich als Alleinschütze bezichtigte. Es sei ohne Widersprüche | |
| gewesen, detailliert, glaubhaft, sagt Koller. Spätere Aussagen hingegen | |
| bezeichnet er als detailarm, emotionslos und „zu keinem Zeitpunkt | |
| konstant“. | |
| Koller benennt die Punkte. Wann genau fiel der Mordentschluss? Im Mai 2019, | |
| bei einem Bier nach einer Sitzung des Schützenvereins, hatte E. gesagt. | |
| „Plötzlich bei einem Bier an einer Tankstelle?“, fragt Koller. „Da sind | |
| erhebliche Zweifel angebracht.“ Warum wurde E. als Schütze erkoren? Bis | |
| heute keine Antwort. Warum ging von H.s Handy in der Tatnacht noch eine | |
| Nachricht ab? Von einem eingeweihten Dritten abgeschickt, als fingiertes | |
| Alibi? Abwegig. Und warum rief Lübcke nicht laut um Hilfe, als die zwei | |
| Männer auf die Terrasse kamen? Warum hielt der Erschossene noch eine | |
| Zigarette in der Hand? Kollers Antwort: Weil es eben doch E. allein war, | |
| der sich anschlich und heimtückisch schoss. | |
| Sagebiel und Koller sehen nicht einmal eine Beihilfe. Dass Markus H. einen | |
| Videoausschnitt von Lübckes Ausspruch auf der Bürgerversammlung online | |
| stellte, der den Hass gegen den CDU-Politiker anfachte, heiße nicht, dass | |
| er einen Mord wollte. Dass er mit E. zu Waffentrainings ging, könne auch | |
| Leidenschaft für Sportschießen sein. Auch habe H. Stephan E. nicht | |
| radikalisieren müssen – er war ja seit jeher rechtsextrem. Dass beide den | |
| Wohnort der Lübckes ausspähten, hätte auch dem Ziel eines Farbanschlags | |
| dienen können, nicht eines Mordes. | |
| Je länger die Richter reden, umso mehr sackt Irmgard Braun-Lübcke in sich | |
| zusammen. Christoph Lübcke wendet den Blick nicht mehr der Richterbank, | |
| sondern den Angeklagten zu. Dort hat sich Markus H. nun mit verschränkten | |
| Armen zurückgelehnt, in einer Pause scherzt er mit seiner Anwältin. | |
| ## Keine Gerechtigkeit für Ahmed I. | |
| „Nicht nachvollziehbar und schwer zu verkraften“ sei der Freispruch für | |
| Markus H., lassen die Lübckes ihren Sprecher erklären. Dabei sei die | |
| Beweislage gegen H. „überzeugend“ gewesen, für eine Beihilfe hätte es | |
| gereicht. [5][Nun blieben „zentrale Fragen zum Tatablauf ungeklärt“]. | |
| Auch Oberstaatsanwalt Dieter Killmer kündigt Revision im Fall Markus H. an: | |
| Die Zweifel des Senats teile er nicht. Mustafa Kaplan, der Anwalt von | |
| Stephan E., schimpft auf die „unzureichenden“ Ermittlungen der | |
| Bundesanwaltschaft gegen Markus H. „Jeder Dorfsheriff hätte besser | |
| ermittelt.“ Ob auch Stephan E. Revision einlegt? Kaplan lässt es | |
| unbeantwortet, zieht wortlos ab. Das Urteil ist auch eine Schlappe für ihn. | |
| Mit Verbitterung reagiert auch Ahmed I. 2016 wurde der irakische | |
| Geflüchtete in Kassel von hinten niedergestochen, in der Nähe seiner | |
| Unterkunft – just der, für die Lübcke eingetreten war. Laut Anklage soll | |
| auch dieser Täter Stephan E. gewesen sein. In seinem Keller fanden | |
| Ermittler ein Messer mit DNA-Fragmenten, die denen von Ahmed I. ähnelten. | |
| Doch auch hier erklären die Richter die DNA-Spur für nicht aussagekräftig | |
| genug. Wieder Freispruch. Es sei bedauerlich, was ihm zugestoßen sei, | |
| wendet sich Sagebiel noch an Ahmed I. „Ich bin sehr traurig“, sagt der | |
| 27-Jährige später im Nieselregen vor dem Gericht. „Wir wissen alle, wer der | |
| Täter ist. Nur das Gericht weiß es nicht.“ | |
| Die Lübckes haben sich da bereits zurückgezogen, für sie spricht nur ihr | |
| Sprecher. Die Familie müsse das Urteil nun sacken lassen, sagt der. Sie | |
| wolle aber keine Gerichtsschelte betreiben, denn auch Walter Lübcke habe | |
| stets hinter dem Rechtsstaat gestanden, auch wenn es unbequem wurde. Für | |
| diese Werte wolle die Familie nun auch nach dem Prozess weiter kämpfen. | |
| „Für eine Demokratie ohne Hass, Ausgrenzung und Gewalt“. | |
| 28 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Urteil-im-Luebcke-Mordprozess/!5748013 | |
| [2] /Plaedoyer-im-Luebcke-Prozess/!5746898 | |
| [3] /Prozess-zum-Mord-an-Walter-Luebcke/!5721117 | |
| [4] /Plaedoyer-im-Luebcke-Prozess/!5745770 | |
| [5] /Prozess-um-den-Mord-an-Walter-Luebcke/!5743213 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Walter Lübcke | |
| Gerichtsprozess | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Walter Lübcke | |
| Kolumne Die Mendel'schen Regeln | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Tatwaffe im Mordfall Walter Lübcke: Anklage gegen Waffenverkäufer | |
| Elmar J. soll dem rechtsextremen Mörder von Walter Lübcke die spätere | |
| Tatwaffe verkauft haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm nun fahrlässige | |
| Tötung vor. | |
| Untersuchungsausschuss zu Lübcke-Mord: „Zu befürchten war es allemal“ | |
| Im hessischen Landtag tagt der U-Ausschuss zum Mord an CDU-Politiker Walter | |
| Lübcke erstmals öffentlich. Ein Zeuge schildert Beunruhigendes. | |
| Urteil zum Mord an CDU-Politiker: Lübcke-Familie legt Revision ein | |
| Die Angehörigen von Walter Lübcke gehen gegen den Freispruch des | |
| Mitangeklagten Markus H. vor. Auch alle anderen Beteiligten legen Revision | |
| ein. | |
| Die AfD und die Erasmus-Stiftung: Steuergelder an die Spießgesellen | |
| Dass mit Geld der AfD-nahen Stiftung Erasmus nun demokratiefeindliche | |
| Forschung betrieben wird, ist eine unerträgliche Vorstellung. | |
| Impfstreit, Maut und rechter Terror: Wird alles besser? Wohl doch nicht | |
| Der Streit um die Impfdosen, der Verantwortung des Verkehrsministers und | |
| das Urteil im Lübcke-Mord zeigen: Alles ist bedenklich. | |
| Reaktionen auf das Lübcke-Urteil: Kritik am zweiten Urteil | |
| PolitikerInnen loben die Verurteilung von Stephan E. zu lebenslanger Haft. | |
| Viele finden aber, dass es damit nicht getan ist. | |
| Urteil im Lübcke-Mordprozess: Mutlos und bitter | |
| Der Hauptangeklagte kommt lebenslänglich in Haft. Aber die Antwort auf den | |
| rechtsextremen Mord kann nicht allein von der Justiz kommen. | |
| Urteil im Prozess zum Lübcke-Mord: Lebenslang für Hauptangeklagten | |
| Stephan Ernst wurde für den Mord an Walter Lübcke zu einer lebenslangen | |
| Haftstrafe verurteilt. Der Mitangeklagte Markus H. erhält nur eine | |
| Bewährungsstrafe. |