| # taz.de -- ZDF-Serie über den Fall Peggy K: Kaum tragischer als die Realität | |
| > Wenn reale Gewalttaten verfilmt werden, ist viel Pietät gefordert. Der | |
| > neuen ZDF-Doku „Höllental“ über den Kindsmord an Peggy Knobloch gelingt | |
| > das. | |
| Bild: Ein Gedenkstein für Peggy in Nordhalben | |
| Ein Kind ist verschwunden. Das damit verbundene Verbrechen wird zunächst | |
| nur erahnt: Man hofft, sucht, befragt, ermittelt, rekonstruiert, über die | |
| Grenzen des Ortes, der Region, des Landes hinweg. Erst 2016, 15 Jahre | |
| später, kommt die Gewissheit, [1][dass das Mädchen tot ist] – durch den | |
| Leichenfund. Die Frage nach dem Mörder bleibt dennoch ungeklärt. Die | |
| Ermittlungen wurden im Oktober letzten Jahres offiziell eingestellt. | |
| Der Fall Peggy Knobloch ist in jeder Hinsicht ein Albtraum. Der monströse | |
| Mord an einem neunjährigen Kind zerbricht auch die Angehörigen; das | |
| empfundene Unvermögen zerstört das Vertrauen in die Polizei; die | |
| Medienpräsenz und das Verhalten vieler Kolleg*innen hinterlassen Spuren bei | |
| den Anwohner*innen des oberfränkischen Dörfchens Lichtenberg, in dem Peggy | |
| mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater lebte. | |
| Einen Fall, der jahrzehntelang durch die Presse ging, für das Medium | |
| Fernsehen aufzuarbeiten, könnte diese Wunden vergrößern – die Gefahr, durch | |
| spekulative Bilder und tendenziöse Texte das Leid der Betroffenen zu | |
| verlängern, ist groß. Und diese Grenze überschreiten Doku- oder | |
| True-Crime-Formate oft– mit Tränen, die nah gefilmt werden, um den | |
| emotionalen Haken auszuwerfen, mit spekulativen Beschreibungen und mit | |
| Fragen, auf die man die Antwort schon kennt. | |
| [2][Die Doku-Serie] „Höllental“ von Marie Wilke, die ab heute im Programm | |
| und der Mediathek des ZDF zu finden ist, umschifft diese Gefahr: „Es war | |
| für mich selbstverständlich, dass mich der Respekt vor ihrem Schicksal und | |
| dem der Angehörigen leitet“, wird die Regisseurin im Presseheft zitiert. | |
| Wilke hat sich auf der Bildebene für eine, wie sie es nennt, | |
| „Hyperrealität“ entschieden. | |
| Sie konzipiert die sechs Teile als ruhige, durch lange Schwarzblenden | |
| strukturierte Narrative, die ausschließlich aus menschenleeren Orten, | |
| Drohnenfahrten über die dichten Fichtenwälder, Nachrichtenausschnitten, | |
| Original-Akten und –Fotos, einem bedrückenden Polizeivideo mit einer | |
| „Tatrekonstruktion“ und Interviews mit begleitenden Journalisten, Juristen, | |
| Polizisten und Nachbar*innen bestehen. Auch der elektronische Score von Uwe | |
| Bossenz beugt sich der Prämisse: Unaufdringlich klingt er anstatt | |
| manipulativ – und dräut doch genug, um die Atmosphäre zu untermalen. | |
| ## Doku mal wörtlich genommen | |
| Mit diesem Rhythmus gibt Wilke dem Publikum nicht nur Zeit, das Gesehene zu | |
| verdauen – abgesehen davon, dass so ein Verbrechen nicht verdaubar ist. | |
| Doch die konzentrierte Form und das Fehlen des Off-Kommentars, der meist | |
| das Raunen, das Zusammenfassen und das Fragen übernimmt, funktioniert als | |
| Distanz: In keiner Sekunde der sechs Mal 45 Minuten wird etwas beschönigt. | |
| Aushaltbar ist es vor allem aufgrund der respektvollen Entfernung. Sogar | |
| für unerträgliche Vorstellungen wie dem sexuellen Missbrauch, der ein | |
| Randthema der Ermittlungen ist, findet Wilke einen Rahmen: Sie zeigt groß | |
| die Vernehmungsprotokolle, kopierte Schreibmaschinenseiten, auf denen | |
| schwarz auf weiß prangt, was geschehen sein könnte. „Frage: Was ist noch | |
| passiert? Antwort: Ich habe vor Peggy onaniert.“ | |
| „Skandal“, das im Zusammenhang mit dem Fall meist benutzte Wort, schreit | |
| sich leicht – wie die Fährten jedoch zustande kamen, die Verurteilung eines | |
| geistig gehandicapten Nachbarn Peggys, der nach einer Wiederaufnahme des | |
| Verfahrens zehn Jahre später frei kam, die ergebnislosen Untersuchungen bis | |
| in die Türkei und nach Tschechien, die scheinbaren Ermittlungsfehler und | |
| merkwürdigen Sackgassen, die in Versalien schreiende Yellow Press – das | |
| untersucht „Höllental“ ebenso vorsichtig, wie die Fahndung nach dem Täter | |
| selbst. | |
| Wilke hat [3][den Begriff „Dokumentation“] wörtlich genommen – ihre Arbe… | |
| bezeugt, anstatt zu urteilen. Das tun dafür andere – im Laufe der Jahre | |
| zwischen 2001 und 2020 haben sich Peggy-Experten wie der freie Journalist | |
| Christoph Lemmer entwickelt, der gemeinsam mit einer Kollegin ein Buch über | |
| den Fall schrieb und wie andere Journalisten in „Höllental“ deutlich die | |
| Arbeit der Polizei hinterfragt. Die Betreuerin des mutmaßlich zu Unrecht | |
| bestraften Nachbarn, der in einer seinen Geisteszustand antizipierenden | |
| Notion nur „der Ulvi“ genannt wird, empört sich über das Fehlurteil. | |
| Ein Sonderermittler drückt seine Unzufriedenheit mit dem Ergebnis aus, das | |
| keines ist. Und die Lichtenberger*innen, gezeichnet von zwei Jahrzehnten | |
| „im Schatten eines Mordes“, wie die Süddeutsche Zeitung titelte, sehen sich | |
| der Zukunft ihres Dorfes beraubt. Sie alle erklären sich vor Wilkes | |
| bedachter Kamera (Kameramann: Alexander Gheorghiu), die sich weder dem | |
| investigativen, noch dem Boulevard-Journalismus unterordnet. Auch den Titel | |
| musste man übrigens nicht zurechtschnitzen: Das benachbarte Tal heißt so. | |
| 8 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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