| # taz.de -- Soziologe über die Kinder-Notbetreuung: „Vorrang für ärmere Fa… | |
| > Wer sollte in die Notbetreuung von Kitas und Schulen kommen und wer | |
| > nicht? Der Soziologe Hauke Brunkhorst fordert ein Eingreifen der Politik. | |
| Bild: Diese Mutter hat ihre Entscheidung gefällt: Kita-Eingang mit Klingel im … | |
| taz: Herr Brunkhorst, würden Sie Ihr Kind derzeit in Schule oder Kita | |
| schicken? | |
| Hauke Brunkhorst: Wenn dies nicht zur Verbreitung des Virus beitragen | |
| würde, natürlich. Aber es entstehen neue Mutationen des Virus, die Zahlen | |
| sind gestiegen. Vieles deutet darauf hin, dass auch Kinder den Virus | |
| verbreiten. Insofern würde ich mein Kind nicht in die Schule schicken. | |
| Ist das Homeschooling für Kinder problematisch? | |
| Wenn Eltern sicherstellen können, dass ihre Kinder zu Hause das Lernen | |
| nicht verlernen, nicht. Darauf kommt es an. Wenn Kinder aus den oberen | |
| sozialen Schichten für ein halbes Jahr nicht in die Schule gehen können, | |
| macht das für sie letztendlich keinen großen Unterschied. Sie haben die | |
| elterliche Unterstützung, den entsprechenden Wohnraum und ein günstiges | |
| Bildungsumfeld. | |
| Es ist also eine Frage der Gerechtigkeit? | |
| Ja. Wie jede Krise vergrößert die Coronakrise die Schere zwischen Arm und | |
| Reich. Das können wir in den USA bereits deutlich sehen. Und hier ist es | |
| nicht anders. | |
| Alle Eltern stecken in einem Dilemma: Verhalte ich mich solidarisch und | |
| lasse mein Kind zu Hause? Oder bringe ich es in die Notbetreuung, um so | |
| meiner Arbeit nachgehen zu können? | |
| Grundsätzlich sollten alle darauf achten, dass das Virus nicht verbreitet | |
| wird. Deshalb tragen wir ja auch Masken. Das ist eine wechselseitige | |
| Gleichheit, die ja vor allem die anderen schützt. Wir sind alle von dem | |
| Virus betroffen. | |
| Wir können also von jedem das Gleiche verlangen? | |
| Nein, ich denke, dass wir das nicht tun sollten. Kinder aus ärmeren | |
| Familien können zu Hause viel schlechter versorgt werden als in der Schule. | |
| Wir müssten diese Kinder also vorrangig behandeln, um überhaupt eine Art | |
| von Gleichheit herstellen zu können. | |
| Was heißt das für die Betreuungssituation in Schulen und Kitas? | |
| Es müssen die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Kinder kompensiert | |
| werden. Deshalb sollte die Politik festlegen, wer in die Notbetreuung gehen | |
| darf und wer nicht. Zumindest sollte sie es tun, wenn sie an Gleichheit und | |
| Gerechtigkeit interessiert ist. | |
| Welche Kriterien sollte die Politik dabei anlegen? | |
| Sie könnte einen Fragekatalog erstellen: Wie viel Platz hat das Kind zu | |
| Hause? Welchen Zugang zu digitalen Geräten hat es? Aber auch: Wie hoch ist | |
| das Einkommen der Eltern? Welchen Schulabschluss haben sie? Diese Kriterien | |
| könnten das Entscheidungsdilemma der Eltern auflösen. Denn es ließe sich | |
| präzise entscheiden, welches Kind in die Betreuung darf und welches nicht. | |
| Im wohlhabenden Bremer Stadtteil Oberneuland waren die Kitas zuletzt zu 100 | |
| Prozent besucht. In ärmeren Stadtteilen waren es nur 20 bis 30 Prozent. Was | |
| sagen diese Zahlen aus? | |
| Sie zeigen, dass das Misstrauen bei ärmeren Menschen gegenüber staatlichen | |
| Einrichtungen größer ist als in der Oberschicht. Auch ihre Fähigkeit, sich | |
| für das Wohl der eigenen Kinder bei Behörden und Erziehern durchzusetzen, | |
| ist geringer. Das ist keine böse Absicht der Eltern; es sind vielmehr | |
| unterschwellige Prozesse. | |
| Was verraten die Zahlen aus Bremen über Solidarität? | |
| Es ist offensichtlich, dass hier bei den oberen Schichten das Bewusstsein | |
| für Solidarität weniger ausgebildet ist. Das gehört allerdings zu ihrem | |
| durchgängigen Verhaltensmuster. Wir wissen aus der Forschung, dass der | |
| Egoismus in den oberen Schichten viel stärker ausgeprägt ist. Ob die | |
| Unterschicht hier aus Solidarität handelt, ist eine schwierige Frage. Es | |
| könnte aber durchaus sein. | |
| Was wäre denn ein solidarisches Verhalten? | |
| Wenn auch wohlhabendere Menschen ihre Kinder zu Hause behalten würden. | |
| Klar, sie hätten mehr Aufwand, aber auch mehr Zeit für ihre Kinder. Sie | |
| wollen nur nicht belästigt werden. Besonders Eltern aus den oberen | |
| Schichten haben meist einen dicken Terminkalender; aber sie entscheiden | |
| auch freier über ihre eigene Arbeit. Daher können sie mehr Zeit für ihre | |
| Kinder aufbringen. Da sie das aber nicht freiwillig tun, braucht es den | |
| Zwang aus der Politik. | |
| Der Druck, Arbeit und Kindern gleichzeitig gerecht zu werden, bleibt | |
| dennoch groß. Ist das Verhalten der Eltern nicht nachvollziehbar? | |
| Es ist ein legitimer Gedanke: Die eigenen Kinder haben Vorrang vor den | |
| anderen. Das gilt für jede Familie. Daher ist die Neigung sehr groß, die | |
| Pflicht zur Solidarität zu verletzen. Der bloße Appell an die Moral hilft | |
| da also überhaupt nicht weiter. Ich will das auch gar nicht kritisieren. | |
| Aber es kommt hier ein Egoismus hervor, der nur durch öffentliches Recht | |
| korrigiert werden kann. Die Politik ist also in der Verantwortung. | |
| 21 Jan 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Finn Starken | |
| ## TAGS | |
| Schule und Corona | |
| Lockdown | |
| Notbetreuung | |
| Bremen | |
| Schule | |
| Schwerpunkt Armut | |
| IG | |
| Hartz IV | |
| Homeschooling | |
| Kita | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hartz IV und Corona: Zuschlag in schweren Zeiten | |
| Ein Bündnis von Gewerkschaften und Verbänden fordert einen Coronazuschlag | |
| auf Hartz IV. Bundessozialminister Heil arbeitet daran. | |
| Homeschooling im Homeoffice: Hausgemachter Wahnsinn | |
| Homeschooling ist hart – für Kinder und Eltern. Inzwischen hat wohl jedeR | |
| die eine Geschichte darüber zu erzählen. Ein „Best of“ aus der Redaktion. | |
| Kita trotz Lockdown: Es kommen die Reichen | |
| Bremen empfiehlt weiterhin den Kita-Besuch, damit arme Kinder Bewegung und | |
| Kontakte haben. Tatsächlich kommen vor allem Kinder aus reichen Vierteln. | |
| Baden-Württemberg in der Coronakrise: Schulstreit im Ländle | |
| Ministerpräsident Kretschmann entscheidet, dass Kitas und Schulen | |
| geschlossen bleiben. Seine Bildungsministerin Eisenmann ist not amused. | |
| Kita-Notbetreuung im Lockdown: Kitas drängen auf klare Regeln | |
| Immer mehr Eltern melden ihr Kind für die Notbetreuung an. Bisher setzt der | |
| Senat auf Solidarität. Die Kitas fordern klare Regeln vom Senat. |