Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Festnahme von Alexej Nawalny: Symbol hinter Gittern
> In einer Justizfarce verurteilt der russische Staat Alexej Nawalny zu 30
> Tagen Haft. Unfreiwillig macht ihn das Regime so zu einer echten
> Alternative.
Bild: Anhänger stehen vor der Polizeiwache Nummer 2 in Chimki, in dem Alexej N…
Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht“, sagt Alexei Nawalny, der in
seinem blauen Hoody schräg in die Kamera schaut, neben ihm die russische
Trikolore, ein abgewetzter Linoleumboden. Es ist ein Video, das seine
Anwältin in Umlauf bringt. Auch sie versteht nicht, was im Polizeirevier
Nummer 2 von Chimki, einem Moskauer Vorort, passiert. Wie auch sonst kaum
einer in Russland.
Klar ist nur: Hier wird die Haft für den 44-jährigen Kremlkritiker
verhandelt. Am späten Nachmittag spricht die Richterin ihr Urteil: 30 Tage
Arrest. Das Gericht tagt direkt auf der Wache. „Es ist die höchste Stufe
der Gesetzlosigkeit“, sagt Nawalny. Journalist*innen sind zu dem Prozess,
der als öffentlich deklariert ist, nicht zugelassen. Über einen russischen
Rechtsstaat zu reden, sei in diesem Fall „vollkommen sinnlos“, sagen gleich
mehrere russische Juristen.
[1][Nach seiner Rückkehr aus Berlin am Tag zuvor] war der
Oppositionspolitiker direkt an der Passkontrolle von Beamten abgeführt
worden. 14 Stunden lang wusste weder sein Rechtsbeistand noch seine
Familie, wo er sich aufhielt. Telefonieren durfte er nicht, obwohl die
russische Strafprozessordnung Festgenommenen das Recht auf ein
Telefongespräch einräumt.
Doch um die Befolgung jeglicher Rechtsordnung geht es dem russischen Staat
im Fall Nawalny nicht. Hier wahrt er nicht einmal mehr den Schein eines
Rechtsstaats samt Gewaltenteilung. Nawalnys Festnahme erfolgte im
„Niemandsland“, der Moskauer war noch nicht einmal eingereist, Anwälte lie…
man bis kurz vor der „Verhandlung“ nicht zu ihm.
## Russland schert sich nicht ums Ausland
Die Sitzung begann, ohne dass weder der Angeklagte noch seine Anwältin
wussten, um welches Vergehen es sich eigentlich handelt. Über den Vorwurf,
gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Fall verstoßen zu haben, sollte
eigentlich am 29. Januar entschieden werden, ob seine bedingte Strafe zu
einer realen umgewandelt wird. Nun dürfte er in Haft bleiben.
Selbst für russische Verhältnisse ist diese Justizfarce beispiellos. Auf
die Meinung aus dem Ausland gibt Russland seit Langem nichts mehr.
Außenminister Sergei Lawrow bezeichnete die Empörung Deutschlands, der EU
und der USA über die Festnahme Nawalnys bei seiner Pressekonferenz am
Montag als „Ablenkungsmanöver ihrer eigenen Liberalismuskrise“.
Lange Zeit verfolgte das russische Regime [2][gegenüber Nawalny eine
Zermürbungstaktik]. Die Behörden schikanierten ihn und seine
Anhänger*innen, brachten sie vor Gericht, ließen Nawalny aber auf freiem
Fuß – um ihn nicht zum Märtyrer zu machen.
Der Mordversuch mit dem verbotenen Nervengift hob den
Antikorruptionskämpfer auf eine neue Ebene: Nawalny wurde zu einem weltweit
bekannten Politiker. Unfreiwillig machte ihn der Staat, der ihn bekämpft,
selbst zu einer Alternative in diesem Staat.
## Kampf im Inneren
Ein „Niemand“, zu dem ihn der Kreml mit etlichen „Spezialoperationen“ zu
machen versucht, ist Nawalny schon lange nicht mehr. Für einen Niemand
müssten weder Flüge umgeleitet werden noch die halbe Stadt abgesperrt
werden. Der Stabilität, die das Putin’sche System propagiert, ist sich
dieses System nicht sicher.
Nawalny darf keine politischen Ämter übernehmen, er hat keine registrierte
Partei, seine Zustimmungswerte waren zuletzt noch gefallen. Aber: Nawalny
ist ein Symbol. Dafür, dass die grassierende Unzufriedenheit der Menschen
im Land sich irgendwann einmal entlädt. Auf diese Unzufriedenheit kennt der
Kreml nur noch die Antwort des Vorschlaghammers. Nawalny ist deshalb eine
Gefahr fürs System Putin, weil er keine Angst vor diesem Hammer hat.
Das Risiko ist Putins Gegner Nummer eins bewusst eingegangen. Der Staat
hatte alles daran gesetzt, ihn von seiner Rückkehr nach Russland
abzuhalten. Aus dem Ausland auf die Politik im Inland Einfluss zu nehmen –
das zeigen Fälle wie [3][Michail Chodorkowski] und [4][Garry Kasparow] –
ist kaum möglich.
Nawalny hat sich für den Kampf im Innern entschieden. Es wird kein
einfacher sein, zumal er ihn wohl hinter Gittern führen muss. Zudem hat er,
auch durch arrogantes Auftreten und Kompromisslosigkeit, nicht nur einige
Gleichgesinnte verprellt, sondern es auch nie geschafft, eine moralische
Führungsperson der Zivilgesellschaft zu werden.
## Aufbruch statt Apathie?
Die jüngsten Ereignisse könnten allerdings einen Politisierungsprozess in
der russischen Gesellschaft in Gang setzen. Manche im Land sprechen
mittlerweile gar davon, dass seine Frau Julia in seine Fußstapfen treten
könnte, [5][nach dem Vorbild von Swetlana Tichanowskaja]. Die Belarussin
ging ihren politischen Weg erst durch die Haft ihres Mannes Sergei, der als
Präsidenschaftskandidat verhaftet wurde.
Julia Nawalnaja schrieb am Montag bei Instagram: „Wir werden auch damit
fertig, Ljoscha (Koseform für Alexei). Es wird auf jeden Fall alles gut.“
Der Staat legt der russischen Opposition immer mehr Steine in den Weg.
Corona macht nicht einmal mehr Versammlungen möglich, die Menschen im Land
sind gerade jetzt um das eigene Überleben besorgt. Gleichgültigkeit und
politische Apathie sind weit verbreitet.
Die Festnahme Nawalnys und die Haltung des Staates, alles machen zu dürfen,
egal, wie menschenverachtend, gesundheitsgefährdend, wie plump, absurd und
selbst nach russischem Recht illegal die Aktionen sind, könnte den
gesellschaftlichen Kurs ändern. Eine noch radikalisiertere Politik wäre die
Folge – gerade in diesem Jahr, in dem die Parlamentswahlen stattfinden.
18 Jan 2021
## LINKS
[1] /Nawalny-in-Moskau-festgenommen/!5744611
[2] /Politiker-Nawalny-im-Portraet/!5707786
[3] /Michail-Chodorkowski-in-Berlin/!5052171
[4] /Russland-vor-den-Wahlen/!5191057
[5] /Praesidentschaftswahl-in-Weissrussland/!5695506
## AUTOREN
Inna Hartwich
## TAGS
Russland
Alexei Nawalny
Repression
Russland
Russland
Einiges Russland
Kreml-Kritiker
Alexei Nawalny
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Soziologe über Kundgebung für Nawalny: „Putin ist nicht Russland“
Igor Eidman erwartet ein hartes Vorgehen der Staatsmacht gegen die
Unterstützer*innen des Kremlkritikers. Von Berlin fordert er klare
Worte.
Opposition in Russland: Spazieren gehen verboten!
Für Samstag haben Anhänger*innen von Alexei Nawalny zu Protesten
aufgerufen. Der Staat nimmt einige Kritiker*innen schon mal vorab fest.
Korruptionsvideo über Wladimir Putin: Der nächste Schlag
Kaum lässt die Justiz Russlands Alexei Nawalny einsperren, veröffentlicht
sein Team einen Enthüllungsfilm: über Präsident Putins mutmaßlichen Palast.
Gefängnis für russischen Oppositionellen: Augenbrauen und Anarchisten
Er habe kein Fenster eingeschlagen und keine Rauchbombe geworfen: Der
27-jährige Doktorand muss trotzdem sechs Jahre in Haft. Ein politisches
Urteil?
Verurteilung von Alexei Nawalny: Angst vor dem Kremlkritiker
Die angespannte Wirtschaftslage und das harte Vorgehen gegen den
Kremlkritiker Alexei Nawalny könnten seinen Mitstreiter*innen Auftrieb
geben.
Repression in Russland: Überall Agenten
Kurz vor Jahresende hat die Duma ein paar schärfere Gesetze
durchgepeitscht. So will sie im Wahljahr die Opposition unter Kontrolle
bekommen.
Festnahme des Kremlkritikers Nawalny: Drehbuch des Geheimdienstes
Die Festnahme Alexei Nawalnys zeigt die Angst der russischen Regierung vor
dem Einfluss des prominenten Kritikers auf die Bevölkerung.
Nawalny in Moskau festgenommen: Mit Ansage
Der Kremlkritiker wurde nach seiner Ankunft auf dem Moskauer Flughafen
Scheremetjewo festgenommen. Heiko Maas fordert die sofortige Freilassung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.