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# taz.de -- Ina Bruchlos beleuchtet Mentalitäten: Die Rituale der St. Paulianer
> Die Hamburger Autorin Ina Bruchlos wurde spät zum FC-St.-Pauli-Fan. In
> ihren neuen Erzählungsband erkundet sie die Absurdität dieses Zustands.
Bild: Schnipsel statt Rauch: St. Pauli Fans feiern ihren Verein
Hamburg taz | Gleichzeitig drinnen und draußen sein, das eigene Tun und
Denken in Echtzeit spiegeln: Das kann sie gut, die Künstlerin und Autorin
Ina Bruchlos, die in Aschaffenburg geboren wurde und seit 1997 in Hamburg
wohnt. Erst durch ihre Partnerin ist sie mit Ende 30 zum St.-Pauli-Fan
geworden. Nun hat sie darüber in ihrem neuen Erzählungsband „Suche
Stehplatz Nord“ geschrieben, aus dem sie demnächst im Hamburger
Literaturzentrum liest.
Dabei ist sie im Hauptberuf bildende Künstlerin, zeichnet viel, hat sich
jahrzehntelang nicht für Fußball interessiert. Aber dann ist ihre Freundin
jeden zweiten Sonntag ins Stadion gegangen, und Ina wollte mit. „Mir hat
das gleich gefallen – die Festival-Atmosphäre, die skurrilen Bemerkungen“,
erzählt sie. Dazu der Zusammenhalt und wenig Randale.
So ist sie peu à peu zum FC-St.-Pauli-Fan geworden, hat Rituale, Kleidung
und Überzeugungen wie eine seltsame Fremdsprache gelernt. Inzwischen weiß
sie, dass man bei der Eingangshymne erst beim Gitarren-Riff das Konfetti in
den Becher schüttet, dass der Kapuzenpulli das wichtigste Kleidungsstück
ist und dass man in Hamburgs City getrost mit FC-St.-Pauli-Mütze rumlaufen
kann, weil der Verein in der Regel beliebt ist.
In den Kneipen anderer Stadtteile nimmt sie die Mütze lieber ab – und
trotzdem fragt manchmal ein boshafter Kellner, wie der (chronisch
abstiegsgefährdete) Verein gespielt hat. „In St. Pauli fragt man das
seltener. Da wissen die Leute meist, wie das Spiel ausging“, schreibt die
Ich-Erzählerin in einer ihrer amüsanten, gekonnt beiläufigen Erzählungen.
## Intelligenter Muntermacher
Eigentlich hat sie die 25 Texte für die allmonatliche „Lesebühne“ in einer
Hamburger Bar verfasst, an der sie vor Corona regelmäßig teilnahm, und die
Leute haben sich jedes Mal kaputt gelacht. Jetzt kann man es komprimiert
und am Stück tun; ein intelligenter Muntermacher in Lockdown-Zeiten.
Dabei versteht man zu Beginn als Nicht-Fan nicht mal, was „braun-weiß“
bedeutet, das einem in der ersten Geschichte ohne Vorwarnung vor die Füße
geworfen wird. Aber man hält natürlich durch, es ist ja ein
„Fremdsprachen“-Lehrbuch, und bald wird es leichter. Man lernt, quasi mit
der Protagonistin, die Codes jenes Inner Fan Circles, in dem sie immer noch
nicht ganz angekommen ist: Die Ich-Erzählerin scheint hin- und hergerissen
zwischen dem Ehrgeiz, Bescheid zu wissen und ironischem Abstand zu alldem.
Denn diese Codes sind skurril, abergläubisch, ritualbehaftet – wie eine
Religion, der alle huldigen, obwohl sie wissen, dass sie erfunden ist. Mit
archaischer Akribie pflegen die Fans magische Handlungen, um den Sieg zu
gewährleisten – so, wie man früher die Götter bezirzte, damit die Ernte
gelang.
## Das magische Denken bleibt
Auch der [1][St.-Pauli-Fan] will Kontrolle gewinnen, und darum beschreibt
die Protagonistin in der Geschichte „Was ich tun muss“ minutiös, wie sie
zum Sieg beitragen kann: ein bestimmtes Shirt tragen, aus der
Totenkopf-Tasse trinken, weder von der Arbeit kommen noch in Aschaffenburg
weilen, im Stadion nicht rechts von der Freundin stehen – jedenfalls nicht
gegen Kaiserslautern. Das hat sie aus jahrelangen Beobachtungen
zusammengeklaubt: Exakt prägt sie sich nach den raren St.-Pauli-Siegen
jedes Detail der Stadionsituation ein, um sie wiederholen zu können.
Was natürlich nicht klappt, und überhaupt: „Vielleicht ist das kompletter
Unsinn, und ich müsste rein gar nichts von alldem beherzigen. Denn manchmal
… sind es tatsächlich die Spieler, die in der Lage sind, ein Spiel zu
entscheiden.“ Der Satz kommt wie eine späte Erkenntnis daher. Den
Selbstzweifel des Fans, sein magisches Denken bannt er nicht.
Dass der Fan im Übrigen jede gegen St. Pauli ausfallende
Schiedsrichterentscheidung anzweifelt, versteht sich von selbst. Das sei
der Stadionsog, sagt Ina Bruchlos im Telefonat. „Wenn die ganze Kurve
zweifelt, glaubt man selbst, es genauso gesehen zu haben.“ Da habe man ja
auch nicht die Wiederholungen der Szene wie im Fernsehen, mit dem sie wegen
Corona derzeit vorlieb nehmen müsse.
Außerdem wisse jeder St. Paulianer: „Wir sind die Guten.“ Daran ändern
Fakten wenig: Als ein Video das Foul ihrer Mannschaft zeigt, ist die
Protagonistin zunächst „verwirrt über die Unredlichkeit unserer Spieler“.
Aber das hält nicht lange vor, der Fan ist so loyal wie besserwisserisch.
„Verhög heißt Verhoek“ korrigiert die Protagonistin die anderen Fans. „…
obwohl ich genau weiß, wie unwichtig es ist, recht zu haben und wie selten
man es gerade im Sport ohnehin meistens hat, tue ich alles, um mein Wissen
zu perfektionieren … zu widersprechen“, schreibt sie, erstaunt über sich
selbst. Es ist ein wohlwollendes Staunen, nicht nur über den eigenen Geist,
sondern über den menschlichen ganz allgemein, über sich unbemerkt
festsetzende Gewohnheiten zum Beispiel.
Das Unauffällige nachgezeichnet
Und hierin liegt die Stärke aller bislang erschienen Alltagsminiaturen von
Ina Bruchlos: das scheinbar Unauffällige nicht kalt zu analysieren, sondern
ironisch und bedächtig nachzuzeichnen, sodass sich die Analyse erübrigt.
Da schreibt sie zum Beispiel von jenem Abend mit einer Freundin beim
Italiener. „Ich mag keine Griechen“, hat sie da gesagt und natürlich
griechische Restaurants gemeint. Die Freundin missversteht. Sie wisse
nicht, warum in letzter Zeit aus ihr Dinge herausplatzten, die völlig
falsch seien, schreibt die Protagonistin weiter. Jedenfalls habe sie völlig
unpassend erwidert, es gebe natürlich auch nette Griechen. „Ich höre meine
Stimme, als säße ich mir am Stammtisch gegenüber. Die Freundin schweigt.
Aus der Sache komme ich nie wieder raus.“
Fettnäpfchen, Haareraufen. Solche Situationen kennt jeder, und das ist das
Schöne an diesen Geschichten: Sie sind nah, erzählen von der Absurdität des
Alltags, von Verführung durch die Masse, von den erratischen Wegen des
Geistes. „Wir spielten gegen Dresden, und ich bemerkte missmutig, dass der
Schiri bestimmt ebenfalls aus Dresden käme, und das, obwohl er bestimmt
nicht aus Dresden kommen dürfe, um nicht NICHT gegen Dresden zu pfeifen“,
schreibt sie. „Meinem Baum der Verschwörungstheorien wuchsen immer mehr
Äste.“
Die Geschichte geht noch weiter, aber das Baum-Bild setzt sich fest.
Suggeriert, dass es an ihr ist, sinnlose, im schlimmsten Fall destruktive
Gedanken zu stoppen, statt ihnen weiter zu folgen und ihnen Macht zu
verleihen.
17 Jan 2021
## LINKS
[1] /Nordderby-in-der-Zweiten-Bundesliga/!5738751
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
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