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# taz.de -- Geschichte einer Jungenhose: Respekt, Aldi!
> Wenn es um Gleichstellung geht, ist so mancher Konzern weiter als
> konservative Linke. Das geht bei Kinderkleidung los – und hört da leider
> nicht auf.
Bild: Hosenfragen, wichtige Fragen
Eigentlich wollte ich meinem Sohn nur eine günstige Arbeitshose für Kinder
kaufen; und dann war ich plötzlich ein Sprachterrorist.
Alles begann damit, dass ich im ALDI reduzierte Arbeitshosen entdeckte:
„Jungenhose im Handwerkerstil“. Also griff ich zu, als Schriftsteller, als
Kind meiner Klasse, kann ich mir keine hippen Engelbert-Strauß-Klamotten
leisten. Und meine beiden Kinder sind immer voller Freude dabei, wenn es
etwas zum Werkeln gab.
Erst letztens entwickelten sie bei einem Arbeitseinsatz unseres
Hausprojektes eine Maschine aus einem Gitter-Abfalleimer, mit der sie
kleine Steine vom Sand trennen. Ein Grund, warum ich meine Kinder zum
Arbeiten mitnehme, ist, ihr Klassenbewusstsein zu stärken: Zu erleben,
welche Mühen körperliche Arbeit macht, was Arbeiter*innen tagtäglich
leisten, wenn sie ihre Lebenszeit an jene verkaufen, die über die
Produktionsmittel verfügen.
Ich möchte nicht drauf warten, bis der Kapitalismus nach Marx seinen
Höhepunkt erreicht hat, um eine befreite Gesellschaft zu realisieren.
Lieber verdeutliche ich meinen Kindern jetzt und hier ihre
Selbstwirksamkeit im Kollektiv. Mein Großvater väterlicherseits war
Werkzeugmacher gewesen, ich der erste in der Familie, der studierte.
## Und die Tochter?
Zurück zur „Jungenhose im Handwerkerstil“. Wenige Stunden nach dem Erwerb
fragte ich mich, warum ich die nur für meinen Sohn gekauft hatte und nicht
auch für meine Tochter. Ich war wütend auf mich selbst.
Meine Tochter hätte ebenfalls eine Hose gebraucht. Warum habe ich ihr nicht
einfach eine zweite mitgenommen? Habe ich mich tatsächlich von der
Aufschrift auf einer Hose manipulieren lassen? Ich achte doch sonst darauf,
meine Tochter nicht aufgrund ihres Geschlechtes zu benachteiligen, sie in
ihren Stärken zu empowern.
Und ich versuche, meinen Kinder beizubringen, wie sie bei
grenzüberschreitendem Verhalten reagieren sollen. Ich will dabei nicht
verbohrt Rollenbilder brechen: Wenn meine Tochter rosa Kleider tragen
möchte, soll sie das. Stark ist sie ja trotzdem.
Bei Facebook postete ich an diesem Tag: „Bei #Aldi gibt es eine „Jungen
Hose im Handwerkerstil“. Noch nie was von den „Arbeiterinnen von Wien“
gehört, Aldi?“
## Reaktionäre Community
[1][Mit den „Arbeiterinnen von Wien“ bezog ich mich auf die „Hymne“ des
antifaschistischen Widerstandes] gegen den Austrofaschismus, die bei der
sozialistischen Jugendorganisation Die Falken automatisch gegendert bzw. in
der weiblichen Form gesungen wird. Für meine Kinder eine einleuchtende
Sache, sie kennen es nicht anders.
Anders dagegen die Facebook-Community. Nach zwei Tagen fanden sich unter
meinem Posting 83 Kommentare. Da mein Profil öffentlich ist, finden sich
auch immer wieder, wenn auch selten, Fascho-Trolle ein. Die werden dann
allerdings schnell von meinen „Freund*innen“ in ihre Schranken gewiesen.
[2][Doch beim Thema Gendern kocht es regelmäßig hoch.]
So auch dieses Mal. Wie jedes vermeintlich schwarz-rote Gendersternchen von
den üblichen Verdächtigen hochgejazzt wird zu einer Revolution, bei der die
Feministin und Anarchistin Emma Goldman ihnen tanzend ihr Reihenhaus raubt
– so schrieb jetzt eine Kommentatorin meines Posts, dass sie eine
Jungenhose für Handwerkerinnen blöd fände. Sie habe ihren Jungs immer Hosen
für Jungen gekauft.
Da ich sie kannte, schrieb ich, dass mich das bei ihr nicht erstaune, sie
antwortete wiederum, sie hätten sie für irre erklärt, wenn sie mit
Mädchenhosen gekommen wäre. Auch mein Mann auf Montage hatte noch nie eine
Arbeiterinnenhose an. Denen fehlt ja der Schlitz! Ich wiederum drückte ihr
mein Beileid aus, dass sie als alte, weiße Frau Hosen ohne Reißverschluss
tragen müsse. Worauf sich ein anderer Kommentator bemüßigt fühlte, etwas
von „lächerlicher Genderei“ und als „Literaturschaffender schämen“
salbaderte.
## Mal Aldi anschreiben
Und so ging es munter weiter: Vermeintlich aufgeklärte Linke und
Linksliberale posteten Tabellen über Größen- und
Körperproportionen-Unterschiede bei Kindern unterschiedlichen Geschlechts;
schalten mich, aus „ideologischer Verbohrtheit“ Dinge zu behaupten. Hielten
mir vor, ich könne ja nicht einmal belegen, ob es nicht auch eine
„Mädchenhose“ gäbe und dass ich aus einer „Mücke einen Elefanten mache…
würde.
Hatten die vielleicht recht? Im Netz suchte ich eine „Arbeitshose für
Mädchen“: Nada. Lediglich „Arbeitskleidung für Damen“. Dafür entdeckte…
die erste Arbeiter*innenhose; eine Jeans von Levis. Ganze 70 Jahre lang nur
in Unisex zu haben. Männer wie Frauen* schien es nicht zu stören.
Dann hatte ich eine Idee. Ich schrieb Aldi an. Auf meine Anfrage kam eine
Mail, die zeigte, dass die Menschen bei Aldi weiter waren, als viele der
sich links und aufgeklärt vorkommenden Diskutant*innen.
Bei der Banderole handele es sich um einen Schreibfehler, „der
cornabedingten [sic] Ausnahmesituation im Frühjahr geschuldet“. Eigentlich
sollte sie „Kinderhose im Handwerkerstyle“ lauten. „Ursprünglich wäre �…
eine Abbildung mit zwei Kindermodellen (Mädchen und Junge) geplant
gewesen.“ In den Prospekten war tatsächlich auch ein Mädchen mit Farbeimer
und Pinsel zu sehen. Respekt, Aldi!
## Gesundes Nein
Als ich auf Facebook anmerkte, dass klassische Rollenbilder sexualisierte
Gewalt begünstigen würden, und einen Kommentator fragte, ob er eine Tochter
habe, schrieb er: „Ob Tochter oder Frau ist völlig zweitrangig“, ich würde
„eine Politisierung der Sprache“ betreiben, „nach der diese nur noch nach
richtig und falsch und kategorisch durchgegendert sein muss. Diese
Diskussionen werden – und das erlebe ich als Kommunalpolitiker praktisch
täglich – von den Menschen als quälend bis ermüdend empfunden und man
fördert damit eine Abstumpfung gegenüber tatsächlicher sexualisierter
Gewalt, Gewalt in der Sprache etc. pp. Aber bei einer Jungenhose zu
beginnen und aus dieser dann, wie aus einem Zylinder, sexualisierte Gewalt
zu zaubern – das irritiert doch mehr als es nützt.“
Damit hatte wieder einmal ein Mann, ein Politiker, die Welt erklärt, der
null praktische und offensichtlich auch keine theoretische Erfahrung hatte,
anstatt Fragen zu stellen. Der mich schlussendlich „entfreundete“ und mir
vorwarf, [3][ich würde „eine Form von Sprachterrorismus“ betreiben.]
Sprache definiert und manifestiert Realität und Bewusstsein und damit auch
das Kaufverhalten, Erziehung und eine Gesellschaft. Soll sich etwas daran
ändern, dass Frauen* ‚nur‘ care-work und/oder schlechtbezahlte und
anstrengende soziale Berufe ausüben müssen und unsere Gesellschaft
weiterhin von Männern dominiert wird, muss sich auch die Sprache ändern.
Am nächsten Tag kaufte ich eine weitere „Jungenhose im Handwerkerstil“.
Meine Tochter schlüpfte wie mein Sohn in die Arbeitshose, „passt!“. „Die
Arbeiter*innen von Wien“ wollten sie beim Malochen trotzdem nicht singen.
Was ich als gesundes „Nein!“ wertete.
31 Dec 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=CNE5gRB7Z9c
[2] /Sprache-Sex-und-Gender/!5704601
[3] /Sexualisierte-Gewalt-bei-Poetry-Slams/!5633324
## AUTOREN
Leonhard F. Seidl
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Gender
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