# taz.de -- Von Menschen und Wölfen: Wolfswesen | |
> Geschichten vom „bösen Wolf“ ziehen sich durch die Literatur. Erst in den | |
> 1990er-Jahren wurden aus den Bestien Vorbilder. | |
Bild: Eins-A Projektionsfläche: der Wolf | |
BERLIN taz | Für den Ökologen Josef Reichholf entstanden die Geschichten | |
vom „bösen Wolf“ in der „Kleinen Eiszeit“ zwischen dem 16. und 18. | |
Jahrhundert, als die Wölfe nach Westen wanderten und hier Furcht | |
verbreiteten. „Auch Menschen machten sich das zunutze und traten als | |
raubende und mordende Werwölfe auf.“ | |
In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt der Roman von Hermann Löns | |
„Der Wehrwolf“ (1910): Ein ganzes Dorf wird darin wölfisch, das gefiel den | |
Nazis: Hitler ließ sich „Wolf“ nennen, sein Hauptquartier in Ostpreußen | |
nannte er „Wolfsschanze“ und sein letztes partisanisches Aufgebot hieß in | |
Anlehnung an ein Freikorps „Werwolf“. | |
Im französischen Zentralmassiv hatte man die dörfliche Bevölkerung | |
entwaffnet. Zum Hüten des Viehs wurden dort Kinder oder alte Leute | |
eingesetzt. Mitte des 18. Jahrhundert soll dort ein Wolf zig Hirten getötet | |
haben. Er wurde „Bestie von Gévaudan“ genannt und königliche Jagdkommandos | |
gegen ihn aufgeboten. Sie töteten auch viele Wölfe, die Bestie riss jedoch | |
weiter Kinder. Ein Gastwirt hielt das Tier für einen Werwolf, den man nur | |
mit einer geweihten Kugel aus Silber erlegen könne. Und so geschah es dann | |
1767 auch. Danach hörten die Morde auf. | |
In „Der Staat“ führte Platon die Wolfwerdung des Menschen auf den Genuss | |
von menschlichen Innereien zurück. Die polnische Schriftstellerin Olga | |
Tokarczuk erzählt in ihrem Roman über ihr schlesisches Bergdorf „Taghaus | |
Nachthaus“ (2019) die Geschichte von fünf Männern, die 1943, um nicht zu | |
verhungern, einen Toten aßen. Das Menschenfleisch bewirkte bei einem der | |
Männer, der Latein- und Griechischlehrer wurde, dass bei ihm in den | |
Fünfzigerjahren „der Wolf die Oberhand gewann“. | |
Er litt aber nur darunter, wenn er bei Vollmond den Wolf „in sich nicht | |
zuließ“: Seine Verwerwolfung war eine Befreiung. Um dennoch keine Gefahr | |
für Mensch und Vieh zu sein, wollte er lieber sterben. Er fing an, Blut zu | |
spenden, „öfter als erlaubt“, aber auch nach zwei Eimern Blut „war er im… | |
noch nicht tot“. | |
In Deutschland kam das Wölfische noch einmal in der Wendezeit hervor: In | |
der Berliner Treuhandanstalt wimmelte es plötzlich von westdeutschen | |
Privatisierungsmanagern, die „Wolf“ mit Vor- oder Nachnamen hießen. „Die | |
benehmen sich schlimmer als Kolonialoffiziere“, meinte selbst der | |
Treuhandchef Detlev Rohwedder. Ihnen gegenüber standen auf ostdeutscher | |
Seite überforderte Betriebsräte, die nicht selten Friedbert, Christfried | |
oder Lammfromm hießen, einer sogar Feige mit Nachnamen: Ein merkwürdiger | |
Fall von Namensmagie am Ende des 20. Jahrhundert, der sich dann im 21. mit | |
„Wolfowitz“ u. a. fortsetzte. | |
In Victor Pelewins postsowjetischer Erzählung „Werwölfe in der | |
mittelrussischen Ebene“ sind es die Angehörigen einer Russen-Mafia, die | |
sich bei Vollmond in Werwölfe verwandeln, wobei sie die Rangabzeichen und | |
Befehlsstrukturen von KGB-Offizieren annehmen. In Thomas Pynchons US-Roman | |
„Mason & Dixon“ verwandelt sich umgekehrt ein englischer Werwolf namens | |
Ludewik, der in einem Tunnellabyrinth überlebt hat, regelmäßig und zum | |
Schrecken seiner Mitmenschen in einen „glatt rasierten, etwas schmalen | |
Jüngling“ – einen „Durham-Dandy in Silberbrokat“. | |
In den Neunzigerjahren kam es aber zu einem „Wolfs-Turn“: Aus den Bestien | |
wurden Vorbilder. Das verdankte das Raubtier den Frauen: Hatte schon die | |
Ehefrau das Wolfforschers Erik Ziemen das eine oder andere Wölfchen | |
gesäugt, wandten sich nun einige Frauen ganzen Rudeln zu. Erwähnt seien die | |
Pianistin Hélène Grimaud, die Biologin Gesa Kluth und die Zootierpflegerin | |
Tanja Askani. | |
„Alle drei sind Wölfen begegnet und ihnen verfallen,“ schreibt der | |
Hobbyjäger und Welt-Redakteur Eckhard Fuhr, der 2014 ein Buch über Wölfe | |
veröffentlichte, die er bezogen auf Deutschland als „Heimkehrer“ | |
bezeichnete, die nun „unser Leben verändern“. Die Rechtsanwältin Elli | |
Radinger beispielsweise gab ihnen zuliebe ihren Beruf auf und schreibt | |
seitdem Bücher über sie. In „Die Weisheit der Wölfe“ (2017) ging sie unt… | |
anderem der Frage nach, „Was Frauen und Wölfe verbindet“. Darüber denkt | |
auch die Falknerin Tanja Askani nach in ihren Wolfsbüchern. | |
## Der este Rückkehrer hatte drei Beine | |
Der erste Wolf hierzulande kam im Jahr 2000 über die Oder-Neiße-Grenze, ein | |
dreibeiniger Wolf, er wurde Naum genannt, eingefangen und mit einer | |
russischen Wölfin in ein Gehege des Wildparks Schorfheide gesperrt, aber | |
weitere Wölfe folgten. Zum Jahresende 2019 teilte das Bundesamt für | |
Naturschutz mit: „In Deutschland leben 105 Wolfsrudel. 257 erwachsene Wölfe | |
wurden erfasst. Die meisten Wolfsverbände leben in Brandenburg (41), | |
gefolgt von Sachsen (22) und Niedersachsen (21). Es gibt | |
Wolf-Management-Pläne. Sie haben einen Duldungsstatus, es sei denn, sie | |
entwickeln sich zu „Problemwölfen“. | |
In Hamburg fand 2019 im Museum am Rothenbaum die Ausstellung „Von Wölfen | |
und Menschen“ statt. Im Vorwort des Katalogs berichtete die | |
Museumsleiterin, wie der Wolf in ihr Haus gelangte. Inspiriert hatte sie | |
der 2004 in China erschienene Roman „Wolf Totem“ von Jiang Rong. Die | |
chinesischen Kulturfunktionäre und -beobachter sprachen von einem | |
„Marktwunder“, weil sie sich nicht erklären konnten, wie solch ein | |
langatmiger Roman in wenigen Monaten über 500.000 Mal verkauft werden | |
konnte. Er handelte ausschließlich von einem Tier, beinhaltete keine Sex- | |
oder Liebesszenen und wurde zudem noch von einem bisher völlig unbekannten | |
Autor geschrieben. | |
## Der Wolf als Vorbild | |
Es geht darin um die Philosophie und Moral des „Wölfisch-Werdens“. Jiang | |
Rong meint, dass es die kleinteilige chinesische Landwirtschaft war, die | |
aus den Chinesen Schafe gemacht habe: „Sie sind unterwürfig, demütig und | |
passiv, dazu verdammt, geschlagen und eingeschüchtert zu werden. Dem | |
gegenüber haben die Mongolen der Steppe Selbstbewußtsein und großen Mut – | |
so wie der Wolf!“ In der Tat haben die chinesische Reisbauernkultur und die | |
inzwischen aufgelösten „Kommunen“ Kollektivität hervorgebracht. Die | |
boomende Handels- und Industriegesellschaft verlangt dagegen eher | |
individuelles Denken und Handeln – so wie es die nomadischen Viehzüchter | |
angeblich vorgelebt haben. | |
Für den Literaturkritiker Zhang Qianyi aus Hongkong ist das eine „allzu | |
simple Geschichtsauffassung“. In der chinesischen Geschäftswelt, „wo sich | |
heutzutage die heftigste Jagdleidenschaft austobt,“ wie die China Daily | |
schreibt, stieß sie jedoch auf große Resonanz. Dort meint man, dass der | |
Wolf Vorbild für den modernen Geschäftsmann sein sollte: „Aus dem Buch von | |
Jiang Rong erfahren wir, dass die Wölfe ausgezeichnete militärische Führer | |
sind,“ meint zum Beispiel. Zhang Ruimin, Geschäftsführer der Haier-Group, | |
einer in Shandong ansässigen Elektrofirma. | |
Der Computerspezialist Fu Jun fand, „wie der Autor die Wölfe beschreibt, | |
aber auch die mongolischen Nomaden, das hat mich sehr berührt. Es sind | |
harte Burschen, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Einige ihrer | |
positiven Eigenschaften sind es wert, von uns übernommen zu werden, z. B. | |
durch unsere Fußball-Mannschaften, damit sie ihre Gegner besiegen – statt | |
besiegt zu werden.“ | |
In Deutschland erschien das Buch 2008 unter dem Titel „Der Zorn der Wölfe“. | |
Was der Autor über die Mongolen und ihr Verhältnis zu den Wölfen zu sagen | |
hat, ist im Übrigen großteils Unfug. Das Hamburger Museum leuchtete das | |
Phänomen Wolf gründlicher als er aus – auch dass Werwölfen in Hamburg im | |
16. und 17. Jahrhundert, wenn man sie fangen konnte, ein Prozess wegen | |
Hexerei gemacht wurde, der meist mit ihrer Hinrichtung endete. | |
Der Werwolf, das ist heute der „Problemwolf“. So einen hatte | |
schleswig-holsteins Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) ausgemacht. | |
Er hieß Dani (offiziell GW924m), hatte einige Schafe gerissen und sollte | |
erschossen werden. 200 Hobbyjäger standen bereit, sie verlangten aber vom | |
Minister, anonym bleiben zu dürfen, denn es könnte sein, dass sie von | |
Feministinnen verhext werden oder sich blamieren, weil sie den falschen | |
Wolf abgeschossen haben. | |
Schließlich war es ein ganz anderes Schicksal, das Dani ereilte: Nach | |
Wanderungsbewegungen über Mecklenburg-Vorpommern und vermutlich Brandenburg | |
– ganz sicher ist das nicht nachgewiesen – lief er nahe dem | |
niedersächsischen Gifhorn vor ein Auto. Am 6. Januar 2020 wurde er schon | |
stark verwest im Walf gefunden. | |
Im Osten geht man anders mit Wölfen um: Seitdem in der Oberlausitz | |
Wolfsrudel leben, koordiniert das Görlitzer Museum für Naturkunde die | |
Untersuchungen der sächsischen Wolfsvorkommen. In der dazugehörigen | |
Naturforschenden Gesellschaft erfuhr ich vom Ornithologen Dr. Fritz Brozio, | |
dass die Wiederaufforstungen unter den Hirschen, Rehen und Wildschweinen | |
leiden. Die Jagdpächter fütterten noch mehr Tiere durch als die früheren | |
ZK-Mitglieder, die schon Millionen für ihre Jagdgebiete ausgaben. Zur | |
Freude der Wölfe, fügte er hinzu. Leider gebe es nicht genug Wölfe! Während | |
im Norden die Fleischfresser zum Problem werden (nicht zufällig | |
veröffentlicht Die Zeit regelmäßig Zahlen über Vegetarier), sind im Osten | |
eher die Pflanzenfresser das Problem. | |
11 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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