# taz.de -- Homeoffice in der Pandemie: Zu Hause sein ist jetzt Arbeit | |
> Die Coronapandemie hat unser Leben durchgeschüttelt. Im Homeoffice leben | |
> wir das Leben von Frührentnern. Die Hauptsache: obenrum gut aussehen. | |
Bild: Untenrum: egal | |
Immer mehr Menschen wissen nach diesem Jahr nicht mehr, wo vorne und hinten | |
ist – geschweige denn kann ein großer Teil von ihnen unterscheiden, was | |
noch Arbeitsleben ist und was privates Dasein. Prominentestes Opfer dieser | |
Dauerverwechslung war der New Yorker Journalist Jeffrey Toobin (New | |
Yorker), der sich [1][während eines Job-Zoomcalls „entblößt“] hatte, um | |
einem menschlichen, üblicherweise im Privaten verorteten Bedürfnis | |
nachzugehen – in der fälschlichen Annahme, dass seine Kamera ausgeschaltet | |
wäre. | |
Plötzlich war Toobin nicht mehr bloß einer von Millionen Menschen ohne | |
Unterleib, die im „Homeoffice“ zur täglichen „Muppet Show“-Konferenz | |
antraten, sondern ein weltweit am Digitalpranger beschämter Mann, der | |
schließlich sogar seines Jobs verlustig ging: Der New Yorker trennte sich | |
von ihm, ebenso der Fernsehsender CNN, in dem er regelmäßig kommentiert | |
hatte. | |
Hätte er nur ein wenig später und einen Raum weiter masturbiert, etwa | |
während des üblich gewordenen Business-Power-Naps auf der heimischen Couch, | |
wäre alles weiter seinen geregelten Coronagang gegangen. | |
Ein Alltag, der längst nicht mehr Ausnahme zu sein scheint, sondern auf die | |
Zukunft verweist: Menschen, die ihren Beruf am Bildschirm ausüben können, | |
sind zur Unzeit in ein Leben als Frührentner katapultiert worden, in dem | |
schon morgens mit Brötchentüten und Printzeitungen geraschelt wird – | |
womöglich sogar im Bett, denn auch von dort aus kann man ja locker die | |
ersten Mails des Tages beantworten. „Vielen Dank für Ihre rasche Antwort.“ | |
Richtig ernst wird es ja erst zu besagter Zoom-/Teams-/Skypekonferenz, | |
anlässlich derer der Oberkörper provisorisch ansehnlich hergerichtet werden | |
muss. Um sich selbst über den milden Gefängnischarakter der neuen | |
Work-Life-Verschränkung hinwegzutäuschen, verlässt mancher noch vor dieser | |
Konferenz rasch das Haus, um in Ermangelung eines Gassi zu führenden Hundes | |
zum Bäcker/Lebensmittelhändler/Bioladen um die Ecke zu gehen. | |
## Die Rotweinflasche leer unter der Spüle | |
Schon mal für das Mittagessen einkaufen, also vor der Konferenz für nach | |
der Konferenz: Vielleicht ein kleiner Salat, vielleicht ein belegtes | |
Baguette oder eine kleine Suppe, gar eine Bowl mit hippen Hülsenfrüchten | |
und zurückhaltend gegartem Gemüse. | |
Im Homeoffice wird mittags in der heimischen Küche ein Business-Lunch | |
simuliert, die gußeisernen Bräter, chromschimmernden Töpfe und elektrischen | |
Gerätschaften kommen erst abends zum Einsatz, nach „Feierabend“, wenn unter | |
körperlich-geistigem Höchsteinsatz [2][gastronomische Spitzenleistungen] | |
erzeugt werden. | |
Doch bis auch dieser Tag herumgebracht sein wird und die Rotweinflasche | |
leer unter der Spüle steht, ist es noch ein weiter Weg. Nach dem | |
obligatorischen neobiedermeierlichen Mittagsschlaf als festem Bestandteil | |
des Arbeitstags und weiteren Bürotätigkeiten stehen Spaziergehbesprechungen | |
auf dem Programm, zu zweit oder gar in Kleingruppen. Auch in öffentlichen | |
Parkanlagen wird nun schwer gearbeitet. Nicht nur mehr Hecken werden dort | |
gestutzt und wacker Substanzhandel getrieben, auch Buchprojekte und | |
Kampagnen werden dort entwickelt. Und Gott weiß was alles unter grauem | |
Himmel gepitched. | |
Erst danach kehrt der Frührentner-Akkordarbeiter wieder zurück in sein | |
Heimbüro, um weiteren sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen. Es gilt, mithilfe | |
multipler Devices die Wochenbildschirmzeit in die Höhe zu treiben. Daten | |
müssen erzeugt und Cookies hinterlassen werden. | |
Auch online lässt sich nun noch einiges konsumieren, ganz ohne Maske, | |
Abstand und Händedesinfektion – bis es endlich an der Zeit ist, das | |
opulente Abendessen zuzubereiten, das irgendwann im Time-Slot zwischen | |
endender „Heute“-Sendung und beginnender „Tagesschau“ konsumiert wird. | |
(Danach spätestens ist Shutdown für die Öffentlich-Rechtlichen und das | |
gutbürgerliche Streamen beginnt.) | |
Zu Hause sein ist Arbeit geworden. Und Wohnen längst der reinste Stress. | |
Ein Leben, in dem die Nachbarn von Untendrunter sich nicht mehr über | |
Partylärm oder zu viel Besuch beschweren, sondern über zu lautes Rücken von | |
Bürostühlen. | |
31 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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