# taz.de -- Fußball in der NS-Zeit: … und der „Kicker“ schäumt | |
> Warum Rotterdams Bürgermeister 1938 ein Länderspiel gegen die DFB-Elf | |
> absagte und einen Landsmann als Gegenspieler hatte. | |
Bild: Nazi-Sympathisant: Karel Lotsy (2.v.l.) bei einem Fifa-Treffen im Jahre 1… | |
Am 11. Dezember 1938 sollte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu | |
einem Länderspiel in Rotterdam antreten. Das Jahr 1938 sah in Deutschland | |
eine Eskalation der Gewalt gegen jüdische Bürger, die in der Nacht vom 9. | |
auf den 10. November ihren Höhepunkt erreichte. Nazis zündeten überall im | |
Reich Synagogen an und demolierten jüdische Geschäfte und Wohnungen. | |
Bis zum Einmarsch der Deutschen waren die Niederlande für Juden ein | |
sicherer und bevorzugter Ort. Nach der nationalsozialistischen | |
Machtübernahme fanden hier fast 30.000 Juden aus Deutschland Aufnahme. | |
Amsterdam, wo etwa 13 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens waren, | |
firmierte als „Jerusalem Europas“. | |
Einer der jüdischen Flüchtlinge war der Wiener Richard Dombi, 1932 Bayern | |
Münchens erster Meistertrainer. Dombi lebte in Rotterdam. In den Jahren | |
1935 und 1938 führte er Feyenoord Rotterdam zur Landesmeisterschaft. Nach | |
der Pogromnacht schrieb die konservativ-protestantische Tageszeitung De | |
Nederlander: „Das deutsche Pogrom hat die öffentliche Meinung in unserer | |
Heimat stark beeinflusst.“ | |
Internationale Begegnungen hätten sich im Laufe der Jahre zu mehr als nur | |
einem Fußballspiel entwickelt. Besonders in diktatorisch regierten Ländern | |
seien sie zu „seminationalen Ereignissen“ geworden. Es bestünde die Gefahr, | |
dass es beim Länderspiel auf den Rängen des Feyenoord-Stadions zu | |
Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Nationalsozialismus | |
komme. | |
Rotterdams Bürgermeister Pieter Oud, Mitglied des linksliberalen Vrijzinnig | |
Democratische Bond, sah dies ähnlich und untersagte das Länderspiel. Karel | |
Lotsy, Direktor des niederländischen Fußballverbands KNVB, kritisierte die | |
Entscheidung. Sport und Politik seien voneinander zu trennen. Das Abspielen | |
des Horst-Wessel-Liedes vor dem Spiel war für ihn kein Problem. Er war der | |
bedeutendste Sportfunktionär der Niederlande und saß auch im Nationalen | |
Olympischen Komitee. Bei Olympia 1936 war er Chef de Mission der | |
Niederlande gewesen. | |
Im niederländischen Parlament protestierten die Abgeordneten der Nazipartei | |
Nacionaal-Socialistische Beweging (NSB) gegen die Entscheidung des | |
Rotterdamer Bürgermeisters. Die Niederlande seien einer „jüdischen | |
Bedrohung“ ausgesetzt, und die Absage des Spiels beschädige die Beziehungen | |
zum Hitler-Regime. Abgeordnete anderer Parteien buhten die NSB-Redner aus | |
und beschimpften sie als „Verräter“. | |
## „Ruchlose Umtriebe“ | |
In Deutschland war Kicker-Chef [1][Hans-Jakob Müllenbach] empört: Die | |
Niederlande seien „schon lange ein günstiger Boden für diese | |
jüdisch-bolschewistische Clique. Man ließ hier die Hetze und das | |
Kesseltreiben ungehemmt gewähren, und je mehr Freiheit man dieser | |
bekämpfenden Gesellschaft überließ, desto eifriger und ruchloser wurden sie | |
in ihren Umtrieben.“ | |
Der Reichssportführer von Tschammer und Osten quittierte die Absage des | |
Spiels mit einem Abbruch der Sportbeziehungen zum Nachbarland. In den | |
frühen Morgenstunden des 10. Mai 1940 fielen deutsche Truppen in die | |
Niederlande ein. Am Abend des 14. Mai kapitulierten die Niederlande. Für | |
[2][Karel Lotsy] bedeutete die Besetzung einen Karrieresprung. Der | |
Multifunktionär diente nun dem Reichskommissar als Berater der | |
Hauptabteilung Erziehung, Wissenschaft und Kulturpflege. | |
Lotsy stand der Naziideologie nahe: „Die Chance ist zum Greifen nahe, | |
dass der neue Geist sich durchsetzen wird.“ Für den Historiker André | |
Swijtink war Lotsy „ein Vollstrecker der antijüdischen Politik der | |
Besatzer“. 1942 wurde Lotsy Vorsitzender des KNVB. | |
Richard Dombi entging der Entfernung der Juden aus dem niederländischen | |
Fußball. 1943 übernahm Dombi die technische Leitung des Rotterdamer Klubs | |
Neptun, den er ein Jahr später in die erste Liga führte. Dombi überlebte | |
die Shoah, weil er sich in Rotterdam erst zwei Jahre nach seiner | |
Verpflichtung durch Feyenoord bei den Behörden anmeldete, aber etwa drei | |
Jahre vor dem Einmarsch der Deutschen. Dabei gab er sich als Protestant | |
aus. | |
Lotsy blieb auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung in Amt | |
und Würden. Eine Kommission sprach ihn vom Vorwurf der Kollaboration frei. | |
Leo Horn, in den Fünfzigern und Sechzigern einer der weltbesten | |
Schiedsrichter, sah dies anders. Horn, niederländischer Jude und aktiver | |
Widerstandskämpfer, machte Lotsy dafür verantwortlich, dass ihn der KNVB | |
nach dem deutschen Einmarsch von der Liste der Schiedsrichter gestrichen | |
hatte. | |
Der KNVB-Boss Lotsy hielt weiterhin am „edlen und wahren Geist“ des | |
Amateurwesens fest – noch eiserner als die DFB-Spitze. Die im Ausland | |
kickenden niederländischen Profis mussten wüste Beschimpfungen ertragen. So | |
war von „dreckigen Profis“, „Geldwölfen“ und „Vaterlandsverrätern�… | |
Rede. | |
Im Jahr 1956 saß Lotsy einer hochkarätigen Fifa-Kommission vor, die sich | |
mit der Südafrikaproblematik befasste. Im Abschlussbericht sprach er sich | |
dafür aus, nicht die „multirassische“ South African Soccer Federation in | |
die Fifa aufzunehmen, sondern die konkurrierende South African Football | |
Association, die die Apartheidpolitik unterstützte. Lotsy starb 1959. Seine | |
Rolle als Nazisympathisant und Kollaborateur wurde erst 30 Jahre später | |
thematisiert. | |
31 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://dewiki.de/Lexikon/Kicker_(Sportmagazin) | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Karel_Lotsy | |
## AUTOREN | |
Dietrich Schulze-Marmeling | |
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