# taz.de -- Vorweihnachtszeit 2020: Ständiges Ringen | |
> Ich möchte mich gerne richtig verhalten. Aber noch nie ist mir das so | |
> schwierig vorgekommen, wie derzeit. | |
Bild: Virologisch nicht gut: Menschen am Sonnabend vor dem 3. Advent in der Ham… | |
Sonntag telefoniere ich mit meinem Sohn und teile ihm mit, dass ich eben | |
gehört habe, dass die Geschäfte ab Mittwoch geschlossen hätten. „Nein!“, | |
schreit er in den Hörer, „Ich hab’ doch noch gar keine Geschenke!“ | |
Ich war am Freitag Geschenke einkaufen. Jedes Jahr wird der Kreis der von | |
mir Beschenkten kleiner, aber noch nie war er so klein wie in diesem: Meine | |
Freund*innen werde ich nicht an Weihnachten sehen, obwohl meine beste | |
Freundin an Weihnachten Geburtstag hat; meine Mutter will einfach nichts | |
mehr haben, weil, wenn sie etwas hätte haben wollen, sie sich das längst | |
selbst gekauft hätte; meine Geschwister sind froh, wenn ich nichts mehr | |
schicke, weil sie dann auch nichts mehr schicken müssen. In diesem Jahr, | |
schätze ich, werden die Paketboten unter der Last mehr als sonst stöhnen. | |
Auch deshalb scheue ich mich – vor dem Verschicken wie vor dem Bestellen. | |
Ich fuhr also am Freitag zu den entsprechenden Läden und kaufte meine drei | |
Geschenke ein, und ich fühlte mich nicht gut dabei. Es fühlt sich in diesem | |
Jahr einfach nicht gut an, einzukaufen. Es ist eine Zumutung für die | |
Verkäufer*innen, die anderen Kund*innen und die Menschen, die den | |
Nahverkehr aus beruflichen Gründen nutzen müssen. Denn ich trage vielleicht | |
zur Ausbreitung des Virus bei. | |
Aber ich brauche ja Geschenke, ich kann darauf nicht verzichten. Ich halte | |
sehr fest an diesen Dingen. Ich möchte niemanden enttäuschen. Ich möchte | |
selbst nicht enttäuscht werden. Ich wünsche mir ein schönes Weihnachtsfest | |
und ich hege diesen Wunsch mit einem schlechten Gewissen, denn ich sehe, | |
wie schlecht es anderen Menschen geht, die mit ganz anderen Problemen zu | |
kämpfen haben: Die Tochter meiner Freundin ist Ärztin im Krankenhaus. Sie | |
hat ihrer Mutter bereits gesagt, dass sie sich darauf einstellen solle, | |
dass sie an diesem Weihnachten nicht nach Hause kommen könne. Was spielen | |
da Geschenke für eine Rolle, Weihnachtsbäume und Festessen? | |
Bauern haben vor dem Landtag in Hannover protestiert, weil sie von den | |
Discountern zu wenig Geld bekommen, als dass sie dafür für ihre Produkte | |
produzieren könnten: die Lebensmittel, die in großen Mengen für das Fest | |
eingekauft werden müssen, der Weihnachtsbraten, die Sahne, der Käse, die | |
Wurst. Kann es sein, dass sie den Erzeuger*innen gestohlen werden, die | |
nicht anständig dafür bezahlt werden? Von den Discountern? Oder von uns? | |
Ich bemühe mich und kaufe meine Lebensmittel im Biomarkt oder auf dem | |
Wochenmarkt ein, und ich hoffe, auf diesem Wege den Bauern und Bäuerinnen | |
einen angemessenen Preis zu zahlen, aber ich weiß es natürlich nicht. Es | |
ist so schwierig, das Richtige zu tun, ja sogar, das Richtige zu denken. | |
Als ich hörte, dass die Geschäfte ab Mittwoch schließen, war ich zufrieden, | |
weil ich es die richtige Maßnahme finde. Und ich fand es auch eine gar | |
nicht so schlechte Vorstellung, dass es so angenehm ruhig werden würde, in | |
der Vorweihnachtszeit. Aber ich muss auch an meine Schwester denken, die | |
selbst ein Geschäft betreibt, die auf das Weihnachtsgeschäft hofft und die | |
nach diesem Jahr der schlechten Umsätze kurz vor dem Ruin steht – nach 25 | |
Jahren. Das möchte ich natürlich nicht. Ich möchte nicht, dass Menschen | |
ruiniert werden. | |
Aber die Welt, in der wir leben, ist nun mal so, dass Menschen ruiniert | |
werden, wenn wir mit dem Kaufen aufhören, ja, wenn wir es nur einschränken. | |
Kaufen ist der Motor dieses Systems, es hält es am Laufen. Wir kaufen also, | |
oder wenn die Läden zu sind, bestellen wir, und alles ist falsch. Noch nie | |
ist es mir so schwierig vorgekommen, mich richtig zu verhalten. Vielleicht | |
müssen wir uns damit abfinden, dass es nicht geht. Es gibt die oft bemühte | |
Floskel, dass wir uns selbst nicht so wichtig nehmen sollen, unser Handeln. | |
Aber wenn wir uns selbst nicht wichtig nehmen, unser Ringen darum, sich | |
anständig zu verhalten: Wer dann? Wer sonst sollte die Welt verbessern als | |
wir? | |
16 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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