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# taz.de -- Geflüchteter über sein Leben: „Ich stehe unter Stress“
> Modoulamin Jassey lebt in einer Bremer WG. Er weiß nicht, wie lange noch.
> Ein Gespräch über seine Geschichte und das Bündnis „Together we are
> Bremen“.
Bild: Eine endlose Zimmersuche ist für viele Geflüchtete Alltag (Symbolbild)
taz: Herr Jassey, wie verbringen Sie zurzeit Ihre Tage?
Modoulamin Jassey: Ich verbringe viel Zeit mit meinen Freunden hier in der
WG. Von 12.30 bis 17.45 Uhr gehe ich in die Schule. Dann gehe ich wieder
nach Hause. Durch den Lockdown kann man ja gerade nichts anderes machen.
Fühlen Sie sich in der WG zu Hause?
Hier? Ja, hier fühle ich mich sehr zu Hause. Ich bin, glaube ich, im Juni
in die WG gekommen, um einen Monat hier zu bleiben. Aber jetzt bin ich
schon fast fünf Monate hier. Ich habe tolle Leute kennengelernt.
Wo haben Sie davor gelebt?
Davor war ich im Lager Lindenstraße.
Warum ist es wichtig, dass Menschen ein Zimmer für sich allein haben?
Im Lager Lindenstraße habe ich mit sechs Menschen in einem Raum gelebt. Das
ist sehr schwierig, vor allem während Corona. Das ist nicht gesund und
nicht sicher. Für mich ist es wichtig, ein eigenes Zimmer zu haben, damit
ich Privatsphäre habe. Dann kann ich mich fokussieren und die Sprache
lernen. Aber in einem Raum mit vielen Menschen zu sein, ist furchtbar. Alle
sprechen unterschiedliche Sprachen, es kommt durch Missverständnisse oft zu
Problemen. Sie wollten mich dann aus Bremen transferieren. Ich wollte aber
nicht gehen. Also hat „Together we are Bremen“ mir geholfen, ein Zimmer zu
finden.
Die Behörden wollten Sie in eine andere Stadt in Deutschland schicken?
Ja, sie wollten mich in eine andere Stadt schicken.
Bekommt man frühzeitig Bescheid, in welche Stadt man transferiert werden
soll?
Im Lager Lindenstraße klopfen sie an deine Tür und sagen dir, dass du
transferiert wirst. Dann geben sie dir den Ortsnamen und das Ticket und
sagen: Geh!
Sofort?
Ja, so läuft das ab. Bei mir war es so, dass sie mich angerufen haben. Als
ich gesagt habe, dass ich nicht gehen werde, hat die Person am Telefon
gelacht.
Was passiert, wenn man einen Transfer ablehnt?
Sie nehmen dich aus dem System raus, sie werfen dich aus dem Lager. Du hast
keinen Schlafplatz mehr und nichts zu essen. Du bekommst kein Geld vom
Sozialamt mehr. Du bist allein.
Kennen Sie Menschen, die deswegen auf der Straße schlafen mussten?
Ja. Ich selbst habe drei Nächte auf der Straße geschlafen, bevor mich ein
Freund auf Together we are Bremen aufmerksam gemacht hat. Diese drei Tage
waren die schlimmsten meines Lebens.
Welche Gedanken hatten Sie an diesen Tagen?
Es waren viele. Ich habe gedacht, warum lebe ich überhaupt? Ich habe in
Italien Leid ertragen müssen und dachte, wenn ich hierher komme, wird es
anders. Aber es wurde nur schlimmer und schlimmer. In Italien war ich
adoptiert worden, weswegen man mich auch wieder nach dort abschieben
wollte. Sie haben mich dort aber sehr schlecht behandelt. Wie einen Hund.
In Italien hatten Sie Adoptiveltern?
Ja genau. Ich habe fast drei Jahre bei ihnen gelebt. Das erste Jahr war
sehr schön. Ich ging dort in die Schule. Aber dann wurde alles anders. Sie
sperrten mich im Haus ein, ich konnte nicht mehr raus gehen.
Sie konnten auch nicht mehr in die Schule gehen?
Nein, das ging nicht mehr. Ich musste das Haus saubermachen. Wenn der Hund
irgendwo hin gemacht hat, musste ich das saubermachen. Mit einem meiner
Schulfreunde hatte ich Kontakt über Facebook. Ich habe versucht, ihm meine
Situation zu erklären, weil ich sehr frustriert war. Er sagte mir, ich
solle versuchen zu fliehen. An einem Tag war es soweit. Die Frau – ich kann
sie nicht meine Mutter nennen – vergaß ihren Schlüssel im Haus. Ich nahm
den Schlüssel und bin raus. Dann holte mich der Vater meines Freundes ab
und brachte mich in ihr Haus. Dort lebte ich einen Monat. Aber sie fingen
an, nach mir zu suchen. Der Vater sagte, ich könne nicht bleiben, weil er
deswegen in Schwierigkeiten geraten könnte. Er schlug mir vor, in ein
anderes Land zu gehen. Er fuhr mich mit seinem Auto nach … wie heißt das
nochmal? München. Dann kaufte er mir ein Flixbus-Ticket und sagte, ich
solle gehen. Ich stieg einfach in den Bus ein. Dann kam ich in Bremen an.
Ich lief im Bahnhof umher und sah viele schwarze Menschen. Ich sagte mir,
hier sollte ich bleiben. Und ich hatte niemand anders, wo ich sonst hätte
hingehen können.
In Bremen haben Sie nun Freunde gefunden.
Ja, ich habe sehr viele Freunde hier, besonders in der WG. Ich habe hier
Menschen kennengelernt, die meine Familie geworden sind. Besonders meine
Mitbewohnerin Carlotta. Wenn Gott mir die Chance gäbe, mir eine Sache zu
wünschen, dann würde ich mir wünschen, dass sie meine biologische Schwester
wäre. Ich habe meine Eltern verloren, als ich sechs Jahre alt war. Dann kam
ich ins Waisenhaus. Ich habe keine Brüder oder Schwestern, keine
Familienmitglieder, die ich kenne. Aber jetzt habe ich jemanden, der mir
sagen kann, was zu tun ist. Der mir sagen kann, was gut und was schlecht
ist. Ich kann nicht riskieren, sie zu verlieren oder diese Stadt zu
verlassen.
Können Sie die Housing-Struktur erklären, die Together we are Bremen (TWAB)
ins Leben gerufen hat?
Wir treffen uns jeden Dienstag. Es gibt viele Menschen, die aus dem System
oder dem Lager gekickt werden. Dann kannst du nirgendwo hin. Man kann dann
zu unserem Treffen kommen und die eigene Lage erklären. Dann versuchen wir
bei der Suche nach einem Zimmer zu unterstützen. Wir nutzen unsere
Social-Media-Kanäle wie Facebook, und starten Aufrufe nach freien Zimmern.
Meistens kann man aber nur wenige Wochen in einem Zimmer bleiben. Sehr
wenige haben das Glück, lange in einem Zimmer bleiben zu können – so wie
ich.
Haben Sie Freunde, die oft ihr Haus wechseln müssen?
Ja, manche müssen alle ein bis zwei Wochen das Haus wechseln. Auch wenn sie
es nicht erzählen, sehe ich ihnen an, wie frustriert sie sind. Sie stehen
sehr unter Stress. Selbst ich, denn ich weiß nicht, wie lange ich in dieser
WG bleiben kann. Durch diese Frustration ist es auch schwer, sich in der
Schule zu konzentrieren.
Gibt es Angebote zur psychischen Unterstützung?
Nein. Ich kann zum Beispiel nicht einfach zum Arzt gehen, weil ich keine
Papiere und keine Gesundheitskarte habe. Wenn ich krank werde, muss ich
allein damit klar kommen.
Haben Sie Angst, nichts Neues zu finden?
Ja. Es ist gerade schwierig. Momentan hilft TWAB, unsere Miete zu bezahlen
– aber es ist kein Geld mehr da. Deswegen haben wir die
Crowdfunding-Kampagne gestartet. Wir verkaufen zum Beispiel Taschen und
T-Shirts.
Wenn Sie Ihr Fundraising-Ziel erreichen, was denken Sie, wie lange reicht
das?
Ich denke, zwei bis drei Monate. Jeden Monat geben wir um die 5.000 Euro
für die Housing-Struktur, Essensgeld sowie Kleidung und Pampers für die
Kinder aus. Danach beginnen wir wohl eine neue Kampagne. Wenn das System
uns helfen würde, dann würden wir nicht so leiden, wie wir es jetzt tun.
Wo liegt der Fehler im System?
Bremen ist der Ort, an dem wir Freunde und unser Glück gefunden haben.
Menschen aus dieser Stadt zu nehmen und in eine andere Stadt zu bringen, wo
man niemanden kennt, ist sehr schwierig. Manche verlieren den Verstand,
weil sie sich immer wieder auf neue Wohnungen und neue Menschen einstellen
müssen. Und nur, weil man eine Bleibe gefunden hat, heißt es nicht, dass
man direkt glücklich ist. Aber ich finde, jeder hat das Recht, dort zu
leben, wo er will. Das System zwingt viele Leute auf die Straße. Sie wollen
dort nicht sein.
Wie hilft TWAB bei diesem Problem?
TWAB unterstützt uns nicht nur finanziell. Sie ermutigen uns, die Hoffnung
nicht aufzugeben, dass eines Tages alles okay sein wird. Ich habe diese
Hoffnung auch. Jede schwierige Phase hat ein Ende. Und vielleicht werden
die Stadt oder die Regierung eines Tages verstehen, wie wir uns fühlen, wie
wir leiden, wie wir leben. Vielleicht eines Tages … Niemand weiß, wann.
8 Dec 2020
## AUTOREN
Alina Fischer
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Bremen
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