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# taz.de -- Leben in der Pandemie: Coronafantasien
> Wir müssen kreativ werden, um im weitesten Sinne ungeschoren von den
> bürokratischen Einschränkungen und von dem Virus davon zu kommen.
Bild: Nischen nutzen, ohne sich und andere zu gefährden
Langsam sollte Schluss sein damit, wie das Kaninchen auf die Schlange
Pandemie zu starren und alle Eindämmungsmaßnahmen mitzumachen
beziehungsweise überzuerfüllen. Auch mit der folgenlosen Kritik an ihnen
und an den [1][unverantwortlichen (rechten) Coronaleugnern]. Es ist jetzt
eben nahezu weltweit die Hochzeit der rechten Bewegungen, das ist wie ein
Virus, das sich ausbreitet. So sahen jedenfalls die Philosophen Deleuze und
Guattari die internationale linke Bewegung: „Das Werden einer Bewegung ist
eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht.“ [2][Auch Coronabücher
gibt es inzwischen] mehr als genug.
Jetzt muss die Beschäftigung damit produktiv werden, das heißt, es gilt,
sich zu überlegen, wo es Gesetzeslücken, Nischen, Möglichkeiten, auch
ökonomische, gibt, in denen man was machen (tun) kann – trotz zunehmender
Einschränkungen.
Wenigstens wäre es sinnvoll, sich umzusehen, was die Leute überall auf der
Welt an Fantasien entwickeln, um im weitesten Sinne ungeschoren von den
Einschränkungen und vom Virus davonzukommen.
In der ersten Coronaphase begann das mit ganz vielen Witzen, Comics, Fotos
über die Pandemie, und sicher hat der eine oder die andere daraus auch
finanziellen Gewinn gezogen – übers Copyright, mit Corona-Apps, -Foren,
-Chats … Ein wahrer Witz: „Nach einem Zoomkongress geht man anschließend
doch nicht in den Puff“, klagen die Taxifahrer, die ebenso wie die
Prostituierten und die [3][Restaurant- und Café- oder Spätibetreiber
langsam depressiv] werden. Auch dass die halbwegs gut bezahlten
Kopfarbeiter in ihr „Homeoffice“ gehen und sich von schlecht bezahlten
Handarbeitern bedienen lassen, ist ein Witz, ein schlechter.
## Work-Space statt Café
Eine andere Idee wäre, aus einem Café oder Ähnlichem einen Co-Working-Space
mit Computern auf den Tischen zu machen – das ist dann ein Geschäft wie ein
Lebensmittelladen, der eben Rechnerzeit für Leute, die nicht zu Hause
arbeiten können oder wollen, verkauft, und sie dazu aus dem Café-Angebot
bedient. Wenn das einer nachts machen würde, wäre das ein Bombengeschäft:
Alle vereinsamten Computerarbeiter würden mit und ohne ihre Laptops dorthin
strömen, um in gemütlicher Atmosphäre und in Gemeinschaft bei Kaffee und
Kuchen ihrer monomanischen Tätigkeit nachzugehen oder sich zu unterhalten …
unter Einhaltung der gerade aktuellen Abstandsregelung natürlich.
Es geht ja darum, Nischen, Gesetzeslücken, Freiräume auszunutzen, ohne sich
und andere groß zu gefährden, sowohl in Hinsicht auf Viren als auch auf
Polizei und Ordnungsämter. Wir haben uns früher mit den Studien des
Linguisten Ulrich Oevermann beschäftigt, der herausfand: Die Unterschicht
hat ein aktives Verhältnis zum Gesetz, während die obere Mittelschicht und
Oberschicht ein interpretatorisches Verhältnis zum Gesetz hat: Sie sehen
sich dieses genau an und überlegen, wie sie drumherum manövrieren können.
Es gibt eine ähnliche französische Studie, ohne diesen Klassenunterschied,
die uns begeistert hat: Der Soziologe Michel de Certeau hat darin den
anonymen „Man on the Street“ als urbanen „Trickster“ dargestellt, wobei…
einerseits die Totalität der Lebensverhältnisse in unseren heutigen
„elektronisierten und informatisierten Riesenstädten“ als eine
Besatzungsmacht herausarbeitete und andererseits den vereinzelten
Konsumenten darin als einen Partisan des Alltags begriff (in: „Kunst des
Handelns“, 1988).
## Unendliche Metamorphosen
Dieser muss nämlich ständig versuchen, die zahlreichen und unendlichen
Metamorphosen des Gesetzes der herrschenden Ökonomie in die Ökonomie seiner
eigenen Interessen und Regeln ‚umzufrisieren‘“. Seine Mittel sind dabei
„ortlose Taktiken, Finten, eigensinnige Lesarten, Listen …“ Bereits der
Kriegstheoretiker Clausewitz verglich die List mit dem Witz: „Wie der Witz
eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine
Taschenspielerei mit Handlungen.“
Für Certeau sind nun „die Handlungsweisen der Konsumenten auf der
praktischen Ebene Äquivalente für den Witz“. Wobei die intellektuelle
Synthese ihrer Alltagspraktiken nicht die Form eines Diskurses annimmt,
sondern „in der Entscheidung selbst liegt, das heißt im Akt und in der
Weise, wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird‘“. All diese operationalen
Leistungen lassen sich auf sehr alte Kenntnisse zurückführen: „Die Griechen
stellten sie in der Gestalt der ‚metis‘ dar. Aber sie reichen noch viel
weiter zurück, zu den uralten Intelligenzien, zu den Finten und
Verstellungskünsten von Pflanzen und Fischen, Jägern und Landleuten. Vom
Grund der Ozeane bis zu den Straßen der Megapolen sind die Taktiken von
großer Kontinuität und Beständigkeit. In unseren Gesellschaften vermehren
sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit.“ Ohne die Möglichkeit, den
immer engmaschigeren Systemen zu entkommen, bleibe dem Individuum „nur noch
die Chance, sie immer wieder zu überlisten, auszutricksen – Coups zu
landen“.
Im Endeffekt geht es dabei um „Lebenskunst“, wobei die partisanischen
Tugenden und Taktiken dazu dienen, im Dschungel der Interessen und
Informationen individuell zu bestehen und sogar erfolgreich zu sein.
Der Wissenshistoriker Michel Foucault dachte 1988 vielleicht an Ähnliches:
„Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch
eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem
Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der
Bereich von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben
eines jedes Individuums ein Kunstwerk sein?“ Wenn man es mit den Augen von
Certeau betrachtet, dann ist es das schon lange – im Verborgenen. Aber nun
braucht es weitere Anstrengungen, um sich nicht bloß unter staatliche
Maßnahmen zu ducken.
14 Dec 2020
## LINKS
[1] /Demo-von-Verschwoerungsanhaengerinnen/!5736106
[2] /Forscher-zu-Rechten-und-Coronaprotesten/!5731945
[3] /Berlins-Selbststaendige-in-der-Krise/!5729613
## AUTOREN
Helmut Höge
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