# taz.de -- Berlins Umgang mit den Schulen: Die Pandemie als Schulversuch | |
> Viele Schulen drängen darauf, Kinder in Teilzeit-Homeschooling zu | |
> schicken. Denn die Corona-Krise könnte eine Chance sein, Schule anders zu | |
> denken. | |
Bild: Alltag in Berliner Haushalten: de 16-jährige Zoe beim Homeschooling | |
BERLIN taz | Die SchülerInnen der Sekundarschule Wilmersdorf haben sich | |
Mühe gegeben: In sauber geschwungener Schreibschrift steht da dick mit | |
schwarzem Filzstift auf einem DIN-A4-Blatt geschrieben: „Unsere Forderung: | |
Wir wollen das Teilungssystem behalten.“ Darunter haben sie eine Liste mit | |
fünf Argumenten für ihre Forderung gesetzt. Punkt 1: „Es ist ruhiger im | |
Unterricht, wir haben ein gutes Stück Abstand und können mehr leisten.“ Sie | |
haben dafür viele Unterschriften unter den SchülerInnen an ihrer Schule | |
gesammelt, insgesamt 15 Seiten füllen die Namen. | |
Das „Teilungssystem“ meint in diesem Fall: den Wechsel aus Unterricht zu | |
Hause und Lernen in der Schule. Was vor Corona höchstens an einer Handvoll | |
besonders fortschrittlicher Schulen im Programm war, ist in der Pandemie | |
plötzlich das heiß umstrittene Ding schlechthin: Sollte man alle | |
Jugendlichen ab der 7. Klasse in den Wechselunterricht aus Homeschooling | |
und Präsenz in der Schule schicken – und zwar nicht nur, weil das aus | |
infektiologischer Sicht jetzt vernünftig wäre. Sondern weil es eben auch, | |
und wer hätte das gedacht, gerade den SchülerInnen nutzen könnte, die | |
eigentlich mehr Unterstützung beim Lernen brauchen. | |
Die Meinungen darüber gehen auseinander. Und es gibt zahlreiche | |
Nebenschauplätze, zum Beispiel auch den Kampf darum, wie | |
selbstverantwortlich die Schulen darüber entscheiden sollten. | |
An der Sekundarschule Wilmersdorf sagt die Schulleitern Martina Schult: | |
„Gerade weil wir die Schule offen halten wollen, müssen wir jetzt umstellen | |
auf Wechselunterricht mit halbierten Klassen.“ Die Kinder säßen jetzt „eng | |
an eng“ in den Räumen, das Kollegium fühle sich „unter Druck“: „Wir m… | |
hier Hygieneregeln vermitteln, die wir selbst nicht einhalten können.“ | |
## Erfahrung aus dem Lockdown im Frühjahr | |
Man nehme, sagt Schult, mit den vollen Klassen viele Quarantänefälle in | |
Kauf, sobald ein Fall in einer Klasse auftritt. „Und zwei Wochen nur zu | |
Hause sein im Homeschooling, das ist hart, auch für die Familien.“ Wenn man | |
eine Erfahrung aus dem Lockdown im Frühjahr mitnehme, als die Schulen | |
tatsächlich für einige Wochen geschlossen waren, dann diese. | |
Schulleiterin Schult sagt, sie hätten deshalb über den Sommer ein Konzept | |
erarbeitet, wie Schule unter Pandemiebedingungen auch aussehen könnte, und | |
das bis zu den Herbstferien auch zunächst umgesetzt: Vier Stunden war die | |
eine Hälfte jeder Klasse in der Schule, vier Stunden am Tag die andere. Die | |
Fachbereiche hätten Aufgaben entwickelt und Arbeitspläne erstellt, mit | |
einem Wechsel aus neuem Input in der Schule und Übungsphasen zu Hause. Und | |
wer daheim nicht in Ruhe lernen kann, für den kümmere sich die | |
Schulsozialarbeit um einen Raum – auch schon vor Corona. | |
Das Erstaunliche, sagt Schult: Gerade die förderbedürftigen SchülerInnen, | |
auf die man ein Auge haben muss – und die der Politik als ein Hauptargument | |
dienen, warum man die Schulen im Präsenzbetrieb halten will –, „die | |
verlieren wir überhaupt nicht“. Im Gegenteil, sagt Schult: „Wir haben die | |
Lerngruppen leistungsmäßig möglichst heterogen zusammengesetzt. Und wir | |
sehen: Die Stillen bekommen eine Stimme und entfalten ihre Fähigkeiten, die | |
Lauten mäßigen sich.“ | |
Ähnliche Erfahrungen hat auch Suzann Haße, Schulleiterin an der | |
Kurt-Tucholsky-Sekundarschule in Pankow, gemacht. Vergangene Woche hatte | |
die Schule einen „Probelauf“ mit geteilten Klassen: „Die Lehrkräfte haben | |
mehr Zeit für den Einzelnen, die Jugendlichen fühlen sich mehr gesehen.“ | |
## Konzept für einen Wechselbetrieb | |
Was man aber vor allem brauche, sagt die Schulleiterin, sei Planbarkeit: | |
„Im Moment reagieren wir nur auf die Infektionslage, wir können nicht | |
sicher sagen, was nächste Woche ist. Das bringt viel Unruhe rein.“ Dabei | |
hätten auch sie nach dem Frühjahr „ein gutes Konzept“ erarbeitet für ein… | |
Wechselbetrieb: Je älter die SchülerInnen, desto mehr sollen sie zu Hause | |
lernen, sowohl analog mit Arbeitsblättern und Stift als auch auf dem | |
Tablet. Das Kollegium, sagt Haße, habe an der Methodik fürs Lernen zu Hause | |
gefeilt, alle hätten inzwischen Schul-E-Mail-Adressen. | |
Doch diese Konzepte durften die Schulen bisher maximal als Projektwoche | |
ausprobieren: Als Anfang Oktober das Infektionsgeschehen auch in Berlin | |
schnell wieder anzog, gab Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Order | |
aus: Der Präsenzbetrieb muss die Regel sein. Man habe Sorge, sonst zu viele | |
Kinder zu „verlieren“. | |
Die Senatorin stand mit dieser Linie keineswegs alleine da. In seltener | |
Einmütigkeit hatten die LänderchefInnen vor dem Treffen mit der Kanzlerin | |
am Mittwoch erklärt: Die Schulen bleiben möglichst im Regelbetrieb – allem | |
Druck vor allem seitens Gewerkschaften und Lehrerverbänden zum Trotz, die | |
seit Wochen mit zunehmender Lautstärke auf mehr Arbeitsschutz für die | |
Lehrenden pochen. | |
„Soweit es geht, soll der Präsenzbetrieb aufrechterhalten werden“, hatte | |
der Regierende Michael Müller (SPD) auch noch mal zu Wochenbeginn im Senat | |
bekräftigt – unbeeindruckt von einem Brief der Gewerkschaft GEW am selben | |
Tag, die Müller direkt aufforderte, „den Gesundheitsschutz in den Schulen | |
und Kitas zur Chefsache zu machen und für die Verkleinerung der Lerngruppen | |
zu sorgen“. | |
## „Karren voll gegen die Wand“ | |
Katharina Becker (Name geändert) ist Lehrerin an einem Gymnasium in Moabit | |
und sagt: „Ich find’s krass. Für mich fahren wir den Karren gerade voll | |
gegen die Wand.“ Die Quarantänefälle an ihrer Schule nähmen zu, und zwar | |
unnötigerweise. Becker sagt, der Lockdown im Frühjahr habe ihre Schule | |
unvorbereitet getroffen. „Die Kinder waren überfordert zu Hause – weil wir | |
keinen Plan hatten.“ Danach sei aber „sehr viel Zeit und Energie“ in die | |
Entwicklung von digitalen Unterrichtsmodellen geflossen. | |
Wobei auch allen inzwischen klar ist: Ein Tablet allein ist noch kein | |
Konzept fürs „schulisch angeleitete Lernen zu Hause – saLzH“, wie der | |
Wechselunterricht etwas sperrig, aber pädagogisch korrekt heißt. Das sagt | |
auch eine Mutter, die Elternsprecherin an einem Pankower Gymnasium ist: | |
„Der Unterricht wird nicht zwangsläufig besser, weil er digital | |
stattfindet.“ Sie sagt: „Es steht und fällt mit dem methodischen Konzept, | |
das ein Lehrer hat.“ | |
Becker ist Klassenlehrerin einer 7. Klasse und sagt, dass aus ihrer Sicht | |
drei Dinge wichtig sind, damit man die Kinder und Jugendlichen im | |
Teilzeit-Homeschooling nicht verliere: Neues sollten die Kinder in der | |
Schule lernen und sich nicht zu Hause selbst erarbeiten müssen. Man dürfe | |
nicht versuchen, den „kompletten Stundenplan“ nach Hause mitzugeben, | |
sondern „maximal ein bis zwei Fächer“. Und: „Wir gehen nicht davon aus, | |
dass die Kinder zu Hause irgendetwas ausdrucken können.“ | |
Will heißen: Die Mindestanforderung ist ein Smartphone mit Scan-App, sodass | |
die Kinder handschriftliche Hausaufgaben scannen und dann mailen können. | |
Eine Abfrage an ihrer Schule habe ergeben, dass zwei Drittel der Kinder nur | |
ein Smartphone als internetfähiges Endgerät haben. „Darauf haben wir | |
reagiert.“ Wer auch kein Handy hat, für den gebe es ein Leih-Tablet. Davon | |
hat die Bildungsverwaltung im Frühjahr rund 9.500 aus Landesmitteln an die | |
Schulen verteilt, weitere 41.500 sollen folgen. | |
## Präsenzbetrieb als Regel | |
Ihr Konzept, so Becker, hätten sie gern weiter ausprobiert. Doch nach den | |
Herbstferien sei dann eben Schluss gewesen: Präsenzbetrieb als Regel. Die | |
Pädagogin sagt allerdings auch, wenn man sie fragt, ob das Modell etwas | |
sei, wie man Schule auch denken könne – unabhängig von Corona und über die | |
Krise hinaus: „Nein. Das ist eine Antwort auf die Pandemie, die wir da | |
gefunden haben. Dazu ist das soziale Miteinander, das Schule auch ausmacht, | |
einfach zu wichtig für die Jugendlichen.“ | |
Auch wenn der Wechselunterricht für die weiterführenden Schulen in Hotspots | |
– und das ist Berlin – jetzt doch noch kommt nach der Bund-Länder-Schalte | |
am Mittwoch: Die meisten Schulleitungen, auch das hört man immer wieder in | |
Gesprächen, wollen gar keine fixe Ansage. Sie wollen vielmehr selbst | |
entscheiden können, was für ihre Schule aus ihrer Sicht das Beste ist. | |
Bildungssenatorin Scheeres fürchtet dieses Szenario. „Ich will Chaos | |
vermeiden“, hatte Scheeres vor den Herbstferien im taz-Interview mit Blick | |
auf den Coronawinter in den Schulen gesagt. Was sie damit meint: dass die | |
Schulleitungen unter dem Druck der Kollegien die Kinder ins Homeschooling | |
oder einen irgendwie gearteten Wechselbetrieb schicken. | |
Am Ende, so die Befürchtung, hätten die SchülerInnen das Nachsehen, die zu | |
Hause wenig Unterstützung haben – oder gar ein echtes Problem haben, weil | |
die Familien heillos überfordert sind. Die Zahl der Polizeieinsätze wegen | |
häuslicher Gewalt hat während des ersten Lockdowns im Vergleich zum | |
Vorjahreszeitraum um 20 Prozent zugenommen, teilte die Polizei Anfang | |
November mit. | |
## LehrerIn will gelernt sein | |
Und dann ist da nicht zuletzt der ökonomische Faktor, zumindest bei | |
jüngeren Kindern im Grundschulalter: Wenn Eltern zu Hause im Homeoffice | |
bleiben, weil die Kinder Hilfe vorm Tablet brauchen, ist das nicht zuletzt | |
ein Ausfall an Arbeitskraft. Wer ein Kind zu Hause hat, weiß spätestens | |
seit dem Frühjahrs-Lockdown: LehrerIn sein will tatsächlich gelernt sein. | |
Und die Geometrieaufgabe in Mathe erklärt sich – wenn sie sich überhaupt | |
erklärt – nicht mal eben fix, während man weiter das E-Mail-Postfach für | |
die Arbeit in Schach hält. | |
Andererseits ist auch wahr: Wenn das Kind am Ende 14 Tage in Quarantäne zu | |
Hause sitzt, weil die Abstände in der Klasse nicht eingehalten werden, ist | |
das vermutlich die größere Katastrophe, als wenn immerhin ein koordinierter | |
Wechselbetrieb stattfindet. | |
Wolfgang Gerhardt, Schulleiter am Albert-Einstein-Gymnasium in Neukölln und | |
stellvertretender Sprecher des Berliner Verbands der Oberstudiendirektoren, | |
plädiert für einen Mittelweg zwischen Eigenverantwortlichkeit und dem | |
Korsett des Stufenplans der Senatorin: „Das ist schon eine weitreichende | |
Entscheidung, die man da trifft“, sagt Gerhardt, deshalb dürfe es auch | |
keine einsame Entscheidung sein. „Aber ich wünsche mir, dass man uns sehr | |
gut zuhört, wenn wir uns jede Woche mit dem Gesundheitsamt und der | |
Schulaufsicht zusammensetzen – da braucht es mehr Mitspracherecht seitens | |
der Schulleitungen.“ | |
Das Einstein-Gymnasium war in der vergangenen Woche „rot“ eingestuft, als | |
eine von sieben allgemein bildenden Schulen. Sehenden Auges sei das | |
gewesen, sagt der Schulleiter: Die Maskenpflicht, die seit 18. November in | |
Berlin für alle SchülerInnen ab Klasse 7 auch im Unterricht gilt, die kam | |
aus seiner Sicht „viel zu spät“. Bei sieben Lerngruppen in Quarantäne zog | |
die Schulaufsicht dann schließlich die Reißleine. | |
## Mehr „Selbstverantwortung“ gelernt | |
„Wir wären eigentlich gerne schon früher ‚rot‘ gewesen“, sagt Gerhard… | |
habe seit dem Frühjahr „wahnsinnig viel ausprobiert“, nutze jetzt intensiv | |
den digitalen Lernraum Berlin und verschiedene Apps, man habe die | |
„Rhythmisierung“ mitgedacht für das Lernen zu Hause – und feste Deadlines | |
eingezogen für die Abgabe von Hausaufgaben. | |
Er sagt, wie auch seine Kolleginnen in Pankow und Wilmersdorf: Die | |
Jugendlichen hätten mehr „Selbstverantwortung“ gelernt. Sie seien | |
selbständiger geworden. Und auch die LehrerInnen hätte das letztlich | |
motiviert: „Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, ist groß.“ Gerhardt | |
sagt sogar: „Wir sehen jetzt, dass man Schule auch ganz anders denken | |
kann.“ Gerhardt ist nicht für dauerhaften Wechselbetrieb, dafür sei die | |
„Begegnung, der soziale Kontakt in der Schule“ zu wichtig.Aber er kann sich | |
durchaus eine Schule vorstellen, die weggeht von dem starren System aus | |
vormittags Präsenzunterricht und nachmittags Hausaufgaben, von einem fixen | |
Stundenplan, von fest abgegrenzten Fachbereichen. | |
„Alles heilige Kühe“, sagt Gerhardt, klar. Aber wenn man eine „Vision f�… | |
eine andere Schule“ ausprobieren könne, dann jetzt. Dafür müsse die | |
Bildungsverwaltung aber von ihrem Mantra von der Präsenz als Regelbetrieb | |
abrücken – und die Schulen machen lassen, die jetzt ausprobieren wollen, | |
wie sich vielleicht mal die Zukunft anfühlen könnte. | |
Die SchülerInnen der Sekundarschule Wilmersdorf haben als Punkt 5 auf ihrer | |
Unterschriftenliste pro Teilungsunterricht vermerkt: „Das Lernen zu Hause | |
läuft gut. Die Lehrer sind immer ansprechbar.“ Das, muss man sehen, ist | |
eigentlich für sich genommen schon eine halbe Revolution: Vor wenigen | |
Monaten waren an den meisten Schulen selbst eigene E-Mail-Adressen für | |
Lehrer undenkbar. Digital war irgendwie die Zukunft, jedenfalls nicht die | |
Gegenwart, und deshalb furchtbar kompliziert. | |
Corona ist – auch wenn es besser wäre, diese Pandemie wäre nie passiert – | |
der vielleicht spannendste Schulversuch seit Langem. | |
28 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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