# taz.de -- Diskussion über Jogi Löw: Wie wir kicken, wie wir leben | |
> Für die Nationalelf werden „bösere“ Spieler gefordert, vom Trainer mehr | |
> „Aggressivität“. Aber wer will, dass wir so künftig miteinander | |
> verkehren? | |
Bild: Noch in der Niederlage ein kooperativer Trainer: Joachim Löw bei der WM … | |
Das [1][0:6] der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien fiel terminlich | |
genau in die ARD-Themenwoche „Wie wollen wir leben?“. Deutschlands größte | |
Fernsehanstalt hatte unter dem Hashtag #wieleben die Frage gestellt, welche | |
Zukunft wir wollen. Schließlich hat das Coronavirus „die Welt, wie wir sie | |
kannten, aus den Angeln gehoben“, wie es auf der [2][ARD-Website] heißt. | |
„Und doch bietet jede Krise auch die Chance, Strukturen zu überdenken, aus | |
Erlebtem zu lernen und neue Ansätze zu wagen.“ | |
Zur „Welt, wie wir sie kannten“ gehört ganz sicher auch die | |
Männernationalmannschaft. Entsprechend sei erlaubt, sie in die Frage „Wie | |
wollen wir leben?“ miteinzubeziehen. Natürlich stößt diese Frage eine | |
höchst normative Diskussion an, und eine kontroverse, da es sehr | |
unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was erstens wichtig oder unwichtig | |
ist und wie zweitens jemand oder etwas sich ändern soll oder muss, um eine | |
bessere Zukunft einzuläuten. | |
Die emotiven Interpretationen und Auswertungen der 0:6-Niederlage in | |
Spanien geben Aufschluss darüber, welche normativen Erwartungen gegenüber | |
einer deutschen Fußballnationalmannschaft und ihrem Bundestrainer von einer | |
Mehrheit der Fans, Experten und Medienvertreter implizit vorausgesetzt | |
werden. | |
Stellvertretend für alle besprachen das im ARD-Fernsehstudio der | |
Ex-Fußballprofi und -Nationalspieler Bastian Schweinsteiger und Moderator | |
Matthias Opdenhövel. Insbesondere [3][Schweinsteiger] ärgerte sich darüber, | |
dass sich die Mannschaft nicht geschlossen „wehrte“. Zur Halbzeit forderte | |
Schweinsteiger, dass die Spieler „böser“ sein sollten. Opdenhövel | |
kritisierte die mangelnde „Aggressivität“ der Spieler auf dem Platz und des | |
Nationaltrainers am Spielfeldrand. In den folgenden Tagen wurde diese | |
Beurteilung vielerorts aufgegriffen. | |
Eine derart kämpferische Rhetorik ist nicht besonders überraschend. Sie | |
gehört zum Fußball, „wie wir ihn kannten“, seit seiner Verbreitung Ende d… | |
19. Jahrhunderts, einer Epoche, die von einer starken Tendenz zu | |
politischem und kulturellem Nationalismus geprägt war. Heute noch zeugen | |
zahlreiche dem Schlachtfeld entliehene Begriffe wie „Angriff“, | |
„Verteidigung“, „Flügel“, „Schüsse“, „Kapitän“ und dergleich… | |
diesem kriegerischen Erbe. | |
## Fußballer als Soldaten? | |
Letztlich werden Fußballspieler als Soldaten gesehen, die „kämpfen“ | |
sollten. Eine geradezu idealtypische Heldenfigur ist Bastian Schweinsteiger | |
selbst, dessen [4][Auftreten im WM-Finale 2014] in der Frankfurter | |
Allgemeinen als „unbändig“, „abgekämpft“ und „am Ende von Tränen | |
überströmt“ in Erinnerung gerufen und von vielen Kommentatoren als | |
normativer Maßstab eingefordert wird. | |
Was sich genau hinter dieser kampfbetonten Sprache im Fußball verbirgt, ist | |
nicht unbedingt leicht zu entziffern. Ist mit „zur Wehr setzen“ oder einer | |
„aggressiven Zweikampfführung“ gemeint, dass die Verletzung eines Gegners | |
hingenommen oder sogar absichtlich provoziert werden soll, um sich einen | |
Vorteil zu verschaffen? Muss im Idealfall, wie bei Schweinsteiger 2014, das | |
eigene Blut fließen? Die meisten Kommentatoren bleiben diese Präzision | |
schuldig. | |
Ein weiterer, nicht weniger aufschlussreicher Kritikpunkt zielt auf die | |
(mangelnde) Kommunikation der Mannschaft und des Bundestrainers. Dem Coach | |
wird vorgeworfen, nicht genug von der Seitenlinie aus in das Spiel | |
eingegriffen zu haben. Auch die Art der Kommunikation auf dem Spielfeld | |
wird kritisiert. Es fehle an Führungsspielern, die Kommandos geben, so | |
Schweinsteiger. „Mit einem Thomas Müller wäre es lauter gewesen“, sagte | |
Opdenhövel. | |
Gefordert wird hier eine hierarchische und verbal aggressive Form der | |
Kommunikation, die meist nur in eine Richtung verläuft. Es sei erlaubt, | |
dies im Jahr 2020 zu hinterfragen. Hängt die Qualität der Kommunikation, | |
sei es verbal oder durch Körpersprache, wirklich von Hierarchie und | |
autoritärer Lautstärke ab? | |
## „Alphamännchen“, die rumbrüllen? | |
Insbesondere vom Bundestrainer und von den älteren Spielern wird häufig | |
erwartet, dass sie die unerfahrenen Spieler regelrecht anbrüllen und ihnen | |
als „Alphamännchen“ zu verstehen geben, was sie alles falsch machen. Eine | |
derartige Kommunikation führt oftmals allerdings nicht zu besseren | |
sportlichen Leistungen, sondern zu allgemeiner Verunsicherung. | |
Die an die Nationalmannschaft gerichteten normativen Erwartungshaltungen | |
färben unweigerlich auf Fußball spielende Kinder, Jugendliche und | |
Erwachsene von der Kreisklasse bis hin zur Bundesliga ab. Wollen wir | |
wirklich, dass künftige Generationen von Fußballern durch bösartiges | |
Einsteigen auffallen, wenn sie nicht mit der Leistung der gegnerischen | |
Mannschaft mithalten können? Ist es zeitgemäß, einen aggressiven | |
Kommunikationsstil zu pflegen, der Spieler, die Fehler begehen, | |
heruntermacht? | |
Der Fußball, ob uns das gefällt oder nicht, repräsentiert und vermittelt | |
Normen und Werte und entfaltet in anderen Gesellschaftsbereichen Wirkung. | |
Sollen wir im Klassenzimmer, am Arbeitsplatz und im sozialen Leben | |
insgesamt genauso miteinander umgehen, wie es jetzt von der | |
Nationalmannschaft gefordert wird? Ist das die Antwort, die der Fußball auf | |
den Hashtag #wieleben bietet? | |
Für TV-Moderator Opdenhövel und Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff | |
rief die Niederlage gegen Spanien Erinnerungen an das Spiel gegen Brasilien | |
bei der WM 2014 hervor, als die deutsche Mannschaft das Halbfinale mit 7:1 | |
gewann. „Jetzt wissen wir, wie sich die Brasilianer gefühlt haben“, sagte | |
Opdenhövel. In Erinnerung an das damalige Auftreten der brasilianischen | |
Spieler sprach Bierhoff von einem „Zerfall“ der eigenen Mannschaft. | |
Was mir persönlich aus diesem Spiel gegen Brasilien in Erinnerung geblieben | |
ist, ist jedoch die unglaubliche Besonnenheit und Bescheidenheit der | |
deutschen Nationalmannschaft nach dem Schlusspfiff. In einer | |
hochemotionalen Situation verzichtete die Mannschaft darauf, in große | |
Jubelstürme auszubrechen. Dass sie damit von vorgegebenen, scheinbar | |
normativen Handlungsmustern abwich, verschaffte ihr viele Sympathien. | |
#wieleben – dass diese Frage in der jetzigen Zeit gerechtfertigt ist, wird | |
kaum jemand bestreiten. Eine sinnstiftende Antwort findet nur, wer die | |
althergebrachten normativen Vorstellungen hinterfragt. Auch im | |
traditionsreichen, von Gewissheiten durchtränkten Fußball. | |
2 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Debakel-der-Nationalelf-gegen-Spanien/!5725609 | |
[2] https://www.daserste.de/specials/ueber-uns/ard-themenwoche-2020-wie-leben-1… | |
[3] https://www.sportbuzzer.de/artikel/bastian-schweinsteiger-debakel-spanien-e… | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=VenZoBf9JFc | |
## AUTOREN | |
Ilker Gündogan | |
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