# taz.de -- Eine Woche lang Essen auf Rädern: Süß und wässrig | |
> Für alte Menschen, die nicht mehr selbst kochen, ist Essen auf Rädern oft | |
> die einzige Möglichkeit, an warmes Essen zu kommen. Ein Selbstversuch. | |
Bild: Tag 5: Bunter Gemüse-Eintopf mit Rindfleischeinlage | |
Hamburg taz | Tja, welchen Anbieter nehme ich nun für [1][mein Essen auf | |
Rädern]? Es gibt da mehrere und auf allen ihren Homepages ist das Essen | |
wahlweise lecker, frisch und/oder gesund. Versprochen! Natürlich nur mit | |
ausgewählten Zutaten und wahlweise mit Herz oder Liebe gekocht. Und, | |
natürlich, mit Freude geliefert. | |
Preislich sind die Unterschiede überschaubar, meistens liegt ein | |
Mittagessen zwischen 7,50 und zehn Euro. Dabei haben alle Anbieter immer | |
mindestens sechs Gerichte im täglichen Angebot. Vegetarisch sollte man | |
allerdings nicht leben, dann wird es schnell übersichtlich. | |
Am Ende entscheide ich mich für den Anbieter, der das älteste | |
Website-Layout hat. Denen ist bestimmt die Verpackung egal, die | |
konzentrieren sich darauf, mir ein wunderbares Essen zu zaubern. | |
Im nächsten Schritt schicke ich meine Bestellung ab, pünktlich vor 16 Uhr. | |
Somit kann ich gleich morgen in den Genuss des ersten Essens auf Rädern | |
kommen. Gegen Aufpreis könnte ich mir das Essen auch noch auf einem | |
Porzellanteller liefern lassen. Ich verzichte. | |
1. Tag: „Gut bürgerlich: Grünkohl mit 2 Kochwürstchen, dazu Salzkartoffeln, | |
Dessert: Apfelmus-Aprikose“ | |
Übergabe: „Moin, einmal Ihr Essen!“, sagt die Lieferantin fröhlich, als s… | |
mir die Box in die Hand drückt und sich dann auch schon wieder umdreht. Ich | |
frage sie noch schnell, wie das mit der Bezahlung läuft. „In bar ist | |
teurer. Und wegen dem blöden Corona nutzen gerade eh viele Leute das | |
Lastschriftverfahren“, sagt sie noch. Schwups, ist sie weg. Sehr nett, aber | |
offenbar ein bisschen in Eile. | |
Hauptspeise: Nicht mehr ganz heiß, aber in Ordnung. Ziemlich salzig. Die | |
Konsistenz des Grünkohls ist ein bisschen sapschig. Und sind da viele | |
Haferflocken drin! Wird damit die Menge gestreckt? Frisch hat es deshalb | |
jedenfalls nicht geschmeckt, eher ölig. Offenbar vollkommen lieblos | |
gekocht. Und irgendein undefinierbarer Geschmack bleibt im Mund. Vielleicht | |
etwas viel vom Lorbeergewürz? | |
Die Würste sind sehr knackig, das gibt Pluspunkte. Die Kartoffeln: solide. | |
Nachspeise: Beim ersten Anblick ist die Nachspeise ein bisschen | |
enttäuschend. Ein kleiner Minijoghurt, wie er für ein paar Cent im | |
Supermarkt erhältlich ist. Sehr bitter. Und: sehr süß, zuckersüß. Ich | |
spür’s direkt auf den Zähnen kribbeln. Und komplett bis zum bitteren Ende | |
püriert. Kein kleinstes Stückchen mehr zum Kauen. Das lässt mich | |
unbefriedigt zurück. | |
2. Tag: „Gut bürgerlich: gebratenes Seefischfilet (natur) mit Dillsoße, | |
dazu Salzkartoffeln und Möhrensalat, Dessert: Fruchtjoghurt Kirsche“ | |
Übergabe: Mit einem „Moin, hier bitte“ begrüßt mich die Lieferantin. Und | |
dreht sich wieder direkt um, als ich die Warmhaltebox in die Hände nehme. | |
„Schönen Tag noch“, rufe ich hinterher. „Ebenso“, kommt es noch zurüc… | |
hat echt wenig Zeit. | |
Hauptspeise: Es dampft sogar noch! Die Sauce ist wässrig und es haben sich | |
Flöckchen gebildet, aber immerhin genau richtig gesalzen. Von den | |
sichtbaren Kräutern lässt sich wenig herausschmecken. Dill soll das sein? | |
Vielleicht. | |
Der Karottensalat ist schön knackig. Das Beißen macht richtig Spaß. Für die | |
paar Apfelstücke gibt es Pluspunkte. Der Fisch dagegen ist komplett fad. Er | |
schmeckt einfach nach: nichts. Und hat die Konsistenz von | |
zusammengedrücktem Matsch, der außen ein bisschen pelzig ist. | |
Kartoffeln: wieder solide. | |
Nachspeise: Genauso muss ein Nachtisch am Mittag schmecken! Richtige | |
Euphorie. Grundsolider Joghurt, auf die gute Art süß. Wunderschöne sämige | |
Konsistenz, nicht zu wässrig, nicht zu fest. Das sind bestimmt die 3,5 | |
Prozent Fett im Milchanteil, wie auf der Packung zu lesen ist. Und auch | |
noch ein paar Kirchstückchen drin! Beinahe eine Minute lang kratze ich noch | |
die letzten Reste aus dem Plastikbecher. | |
3. Tag: „Kleines Menü: Putenrollbraten in Sahnesoße, dazu Brechbohnen in | |
Schwitze und Kartoffelpüree, Dessert: Grießdessert“ | |
Übergabe: Die Lieferantin wirkt sehr nett, aber ich habe keine Chance, sie | |
in ein Gespräch zu verwickeln. Kommt, überreicht das Essen und ist wieder | |
weg. „Schönen Tag!“, rufe ich ihr noch zu. „Ebenso.“ | |
Hauptspeise: Gesund sieht das nicht aus. Glitschige Matsche und ein kleines | |
Stück Fleisch. Das Auge isst hier heute nicht mit. Die Soße aus Sahne und | |
altem Fett schmeckt so, wie sie aussieht. Das kann man beim besten Willen | |
nicht essen. Die Bohnen sind so lasch, als hätte sie jemand vorgekaut. | |
Immerhin ist der Kartoffelbrei – bestimmt aus der Fertigpackung – gut und | |
ausreichend gesalzen. | |
Ich esse den Kartoffelbrei auf, der Rest landet im Müll. Das ist doch nicht | |
gesund! | |
Nachspeise: Kleine Bröckchen, total süß und wässrig. Ich prüfe schnell das | |
Ablaufdatum. Das Vanillearoma werten wir mal positiv, obwohl es total | |
künstlich riecht. Das war heute alles eine große Enttäuschung. Ich will | |
eigentlich nicht mehr weiter so was essen müssen. | |
4. Tag: „Vegetarisch & süß: Steckrüben-Möhren-Eintopf mit Kartoffelwürfe… | |
und Petersilie, Dessert: Mousse au Chocolat“ | |
Übergabe: Ich habe nun akzeptiert, dass ein kurzes Pläuschchen einfach | |
nicht drin ist. „Moin. Danke. Tschüss“ – zu mehr Worten komme ich nicht, | |
bis meine Essenslieferantin schon wieder weg ist. Ein Lächeln hat sie aber | |
immer für mich parat. Das ist ja immerhin etwas. | |
Hauptspeise: Man kann am Essen riechen wie man will: keine Chance, da | |
irgendeinen speziellen Geschmack herauszuriechen. Riecht wie jeden Tag | |
zuvor auch schon. Gar nicht mal muffig, aber auch nicht nach etwas, das mir | |
eine duftende Vorfreude bereitet. | |
Der Eintopf ist erstaunlich solide, schmeckt allerdings, als wäre er nicht | |
mehr ganz frisch, sondern schon vier oder fünf Mal aufgewärmt. Halt ein | |
bisschen schal. Der Eigengeschmack der Karotten oder der Kartoffeln oder | |
der Steckrüben ist nicht mehr auszumachen, es hat sich zu einem großen | |
Ganzen zusammengemischt. Sieht ein bisschen aus wie Gelee. Sehr weich das | |
Gemüse. Beim letzten Happen sehne ich mich danach, mittags wieder selbst | |
kochen zu können. | |
Nachspeise: luftig, cremig, süß. Das ist zwar überhaupt nicht gesund, aber | |
lecker. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Zutatenliste und schaue | |
schnell wieder weg. Das ist mir gerade so was von vollkommen egal, was für | |
ein Mist da alles drin ist. Ich schaufel den Nachtisch ganz schnell in mich | |
rein. | |
5. Tag: „Leckere Vielfalt: bunter Gemüseeintopf mit viel Gemüse, Kräutern, | |
Kartoffelwürfeln und Rindfleischeinlage, Dessert: Pfirsichkompott“ | |
Übergabe: Ich gebe ihr die Box vom Vortag nun schon wortlos zurück. Aber | |
dann fällt mir ein, dass ich sie noch in ein Gespräch verwickeln muss! Was | |
ist mit der Box von heute? „Soll ich Sie Ihnen direkt geben?“ „Ja, das | |
kannst du machen“, sagt sie. Sie duzt mich, wie schön. Und schwups, ist sie | |
wieder weg. | |
Hauptspeise: Mein Appetit auf diese Art Essen ist im Keller. Ich will | |
einfach nicht mehr. Aber diesmal habe ich sogar das Gefühl, dass es frisch | |
riecht. Sogar mit richtigen Gewürzen! Ich kann es kaum glauben. Hier und da | |
ist ein Gemüse sogar bissfest. Nicht völlig verkocht. Sogar die | |
Kartoffelstückchen fallen im Mund nicht sofort auseinander. Und die Erbsen: | |
knackig! Ich glaube sogar, Gewürze schmecken zu können. Majoran vielleicht. | |
Wahnsinn! | |
Beim Kauen einer Bohne bilde ich mir ein, den Geschmack von Bohnen erkennen | |
zu können. Und die Fleischstückchen, vor allem schön salzig, runden das | |
Essen sogar ab. Das glaubt mir niemand. Es schmeckt! War hier ein anderer | |
Koch im Einsatz? | |
Nachspeise: Auch hier kommt mir sogar ein Geruch entgegen: sauer-fruchtig! | |
Und auch hier: Die Stückchen schmecken immerhin ein bisschen fruchtig neben | |
all dem Zucker. Andererseits: Das Gelee sieht nicht gerade appetitlich aus. | |
Also das war jetzt doch noch mal ein überraschend leckerer Abschluss. | |
Dennoch freue ich mich schon richtig auf morgen, wenn ich mir selbst | |
endlich wieder etwas zum Mittag kochen kann. Was bin ich froh, dass das | |
jetzt vorbei ist, denke ich mir. Die armen Menschen, die auf dieses Essen | |
wirklich angewiesen sind! Das geht doch auf Dauer nicht. | |
29 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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