# taz.de -- Klinik-Seelsorgerin über Corona: „Der Stress ist gerade groß“ | |
> Bei der ersten Welle sei es manchmal entspannter gewesen als sonst, sagt | |
> die Bremer Pastorin Frauke Lieberum. Aber jetzt mache sie sich große | |
> Sorgen. | |
Bild: Die Seelsorgerin kann in der Klinik in den eigenen Räumen auch ohne Mask… | |
taz: Frau Lieberum, wie erleben Sie gerade den Alltag mit Corona im | |
Krankenhaus – im Vergleich mit dem Frühjahr? | |
Frauke Lieberum: Ich finde die Situation gerade viel angespannter und ich | |
habe große Sorge, dass die Belastungsgrenzen beim Personal jetzt | |
überschritten werden. | |
Ich hatte die Rückmeldungen vom Pflegepersonal so verstanden, dass es | |
ausgebrannt in die zweite Welle gegangen ist … | |
Das stimmt insofern, als die Mitarbeitenden in der Klinik immer am Limit | |
oder knapp drüber sind. Aber im Frühjahr war es so, dass sich alle auf den | |
großen Ansturm vorbereitet haben – und der kam dann nicht. Außerdem habe | |
ich so eine „Wir schaffen das gemeinsam“-Stimmung gespürt. Es gab noch so | |
eine Atmosphäre von Sicherheit, man fühlte sich gut vorbereitet. In den | |
Medien waren die furchtbaren Bilder aus Italien sehr dominant und hier sah | |
es so aus, als würden wir nicht so überrollt werden können. So kam es dann | |
ja auch. Es war ein kleines bisschen aufregend. Und sogar manchmal | |
entspannter als üblich. | |
Wie bitte? | |
Während der ersten Welle wurden nicht notwendige Operationen und | |
Behandlungen verschoben. Auf den Stationen war es leerer, weil Betten | |
freigehalten werden mussten. Da habe ich manchmal gehört, dass für die | |
wenigen viel mehr Zeit war. Aber jetzt kommt Corona oben drauf, der normale | |
Klinikalltag muss weiter laufen, auch weil sich die Kliniken weitere | |
Ausfälle wirtschaftlich nicht leisten können. Der Stress ist gerade groß, | |
auch der psychische. | |
Betrifft das nur die Intensivstation? | |
Nein, das betrifft alle, auch weil ja immer wieder Personal ausfällt, weil | |
jemand in Quarantäne muss oder krank wird. Es ist schwer, Distanz zum | |
Geschehen zu haben, wie die Mitarbeitenden es sonst können, weil sie | |
genauso betroffen sind wie alle anderen. Gleichzeitig haben sie nicht mehr | |
diese Aufmerksamkeit wie im Frühjahr. | |
Hat sich Ihr Arbeitsalltag auch verändert? | |
Ja, wir sind zu dritt in der Seelsorge und gehen nicht mehr wie früher über | |
die Stationen, sondern kommen nur noch, wenn wir darum gebeten werden. Wir | |
können auch in unseren Räumen besucht werden, dort sind auch Gespräche mit | |
Abstand ohne Maske möglich. | |
Kommen auch Mitarbeitende zu Ihnen? | |
Gar nicht so viel. Das kann aber auch daran liegen, dass diese Klinik einen | |
psychiatrischen Schwerpunkt hat und es hier viele Beratungs- und | |
Unterstützungsangebote gibt. Dafür werden wir wegen des Besuchsverbots viel | |
häufiger als früher von Angehörigen angerufen, die uns bitten, nach jemand | |
zu sehen. Zunehmend bitten mich jetzt auch Kolleg*innen, an ihrer statt zu | |
einem Gemeindemitglied zu gehen. | |
Ich hatte von einer Kollegin von Ihnen gehört, dass das Besuchsverbot nicht | |
mehr so ein großes Thema ist, sondern allgemein akzeptiert ist. | |
Die meisten haben sich daran gewöhnt, dass unten am Empfang | |
Sicherheitspersonal steht und man nicht mehr so einfach rein kommt, auch | |
die Abläufe sind klarer, dass also wirklich nur die Ärzte und Ärztinnen | |
Ausnahmen vom Besuchsverbot aussprechen können. Anfangs gab es noch | |
Irritationen am Empfang, wenn Patient*innen länger im Sterben lagen, zum | |
Beispiel zwei Wochen, das bekommen die unten am Empfang ja nicht mit und | |
sind dann manchmal misstrauisch. Aber manchmal wundere ich mich darüber, | |
dass Angehörige immer noch darüber diskutieren wollen und das Besuchsverbot | |
nicht einsehen. Im Sommer haben das einige auch umgangen. Wir haben hier | |
einen großen Park, da haben sich manchmal Patient*innen mit Leuten | |
getroffen. Denen können Sie nicht allen hinterherlaufen. | |
Aber es ist auch verständlich, oder? | |
Ja, es ist für viele, die zur Behandlung oder zur Reha sind, schlimm, so | |
viel alleine zu sein. Und wir aus der Seelsorge oder auch Pflegende können | |
Angehörige in der Krankheitsverarbeitung nicht ersetzen. Wir haben hier die | |
Lungenstation, wo viele Krebserkrankungen behandelt werden. Wenn jemand | |
hier eine lebensverändernde Diagnose erhält, da haut das Besuchsverbot | |
richtig rein. In so einer Situation müssen Sie mit jemand sprechen können, | |
der Ihnen nahesteht, dessen Leben auch davon betroffen ist. Da muss man ein | |
gemeinsames Bild von der Krankheit entwickeln können, das geht nicht am | |
Telefon, dazu gehören auch Berührungen oder auch gemeinsames Schweigen. | |
Und das geht jetzt nicht? | |
Nicht immer, ich setze mich allerdings dafür ein und auch die | |
Klinik-Mitarbeitenden machen da sehr viel möglich. Ich werde auch oft von | |
Pflegenden angesprochen, die mir sagen: „Da ist jemand sehr einsam, können | |
Sie dort einmal hingehen?“ Sie wissen ja auch, dass zum Beispiel | |
Trauerprozesse notwendig sind, um sich auf eine Behandlung einlassen zu | |
können. Dafür muss man frei sein. | |
Gehen Sie auch auf die Coronastation? | |
Ich hatte von dort noch keine Anfrage. Und wegen der hohen | |
Hygienevorschriften ist so ein Besuch auch nicht mal so einfach zu machen. | |
Ich bin nicht geübt darin, die Schutzkleidung schnell an und wieder | |
auszuziehen. | |
Und auf die Intensivstation? | |
Da gilt dasselbe. Wissen Sie, Corona ist in der Klinik weniger Thema als | |
außerhalb. In so einem Krankenhaus sind diese Patient*innen eine kleine | |
Gruppe. Wir haben hier die Geriatrie, eine Schlaganfall-Reha und die | |
Neurologie. Ich rede mit MS-Kranken oder mit jemand, der jetzt ins Heim | |
ziehen soll. Oder Angehörige eines Dementen fragen mich, sie wüssten gar | |
nicht, wie es ihm ginge, ob es stimme, was er so erzähle. Bei den psychisch | |
Kranken sind zum Teil ambulante Hilfesysteme zusammengebrochen, was viele | |
destabilisiert hat. Ich erlebe es auch so, dass es hier einen anderen | |
Angst-Level gibt als außerhalb. | |
Was meinen Sie damit? | |
Hier gibt es viele ältere Patient*innen, die haben ein anderes | |
Gefahrenbewusstsein und kommen gerne in den Gottesdienst. Sie haben schon | |
lange gelebt. Und mein Mann ist Gemeindepastor, da höre ich, dass das Thema | |
dort sehr viel angstbesetzter ist als in der Klinik. Hier tragen alle seit | |
acht Monaten Masken, das ist Alltag. | |
Aber eingangs sagten Sie, der Stress sei groß. | |
Ja, wegen der Arbeitsbelastung und weil kein Ende abzusehen ist. Wir haben | |
jetzt November. Da kommen noch Dezember, Januar, Februar – das macht mir | |
Sorge. | |
Wie können Sie helfen? | |
Ich kann die Belastung nicht wegmachen, die ist real. Aber es kann helfen, | |
das auszusprechen, gesehen zu werden mit der Not. Ich brauche keine Tipps | |
zu Entspannungsübungen geben, das kennen wir doch alles. Und die | |
Klinikleitung sieht das auch alles. Sie kann sich nur keine Mitarbeitenden | |
schnitzen. | |
Was hilft Ihnen? | |
Mir hilft es, wegzukommen von dieser globalisierten Angst, wenn ich mir | |
genau überlege, was sind wirklich gefährliche Situationen. Und ich habe | |
meine Kontakte zwar eingeschränkt, aber die, die ich habe, pflege ich. | |
Unsere erwachsenen Kinder kommen zum Beispiel jeden Samstag zum Frühstück, | |
das ist ein wichtiges Ritual für uns. Wir brauchen die Nähe, das rate ich | |
auch Mitarbeitenden. Es ist wichtig, dass das eigene Zuhause ein Ort der | |
Entspannung bleibt und kein unsicherer, weil jemand in Quarantäne ist und | |
alle Maske tragen. Mich hat es geärgert, als Angela Merkel im März gesagt | |
hat: „Jetzt mal bitte alle sozial distanzieren, dann geht das schon.“ Wenn | |
wir das rigoros durchziehen, dann hat diese Pandemie langfristig schwere | |
Folgen im Zusammenleben. | |
16 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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