# taz.de -- Die Wahrheit: Volle Regression voraus | |
> In jedem entlegenen Landstrich gibt es einen Radiosender, der die | |
> schlechtesten Hits aller Zeiten spielt und so Sicherheit verströmt. Auch | |
> in Berlin. | |
Bild: Sprengmeister – die neue App für alles, was explosiv ist | |
Schwierig, wenn man eines Tages von früher zu schwafeln beginnt. Wenn „vor | |
zwanzig Jahren oder so“ keine sinnlose Übertreibung mehr ist, sondern einen | |
genauen Zeitrahmen bezeichnet. Wenn sich die Fotos von Häusern, die einmal | |
etwas bedeutet haben und jetzt abgerissen werden, häufen – meine erste | |
Sparkassenfiliale, Vaters Geburtshaus, meine erste Kneipe, in der der Wirt | |
noch über seiner Arbeitsstelle wohnte. | |
Wenn alte Freunde, mit denen man einst LSD nahm, mittlerweile wie ihre | |
eigenen Großväter aussehen und sich auf Fotos bei der Gartenarbeit zeigen. | |
Und wenn man Lockdown eins von Lockdown zwei unterscheiden muss. | |
Und natürlich diese Vergleiche anfangen: Was war früher besser, was nicht? | |
Jugend ohne Handy, dafür Kindheit mit Wählscheiben; die Horrorfilme der | |
Achtziger, dagegen die Trashfilme der nuller Jahre; verschwundene | |
Radiosendungen wie „Mel Sondocks Hitparade“ oder „Riff – der Wellenbrec… | |
auf WDR 1“ oder eben Spotify. Womit ich fast schon beim Thema wäre. | |
Denn diese Anzeichen von Alterung und Regression zeigen sich besonders | |
stark in, nun, bedrohlichen Phasen. In Phasen der Verunsicherung und | |
Einkehr. In Phasen der erzwungenen Besinnung aufs Wesentliche. Also im | |
Lockdown. | |
Neben dem Cornern, den ausufernden Spaziergängen wie in russischen Romanen | |
und den Fahrradfahrten durch eine Geisterstadt war es besonders das | |
Spreeradio, das in Lockdown 1 Trost und Sicherheit bot. Jetzt ist es raus. | |
Das Spreeradio ist einer dieser Sender, die die Nachrichten locker-flockig | |
und mit Jingles durchsetzt bringen, mit Moderatoren, die „Ich bin Arthur | |
Esch“ vor oder nach dem Sendernamen sagen; Sender, die sich mit Werbung für | |
Möbelhäuser und Werkstätten für Autoglasreparatur finanzieren und die | |
musikalisch ein Worst-of der letzten fünf Jahrzehnte bringen; so einen | |
Sender gibt es in jedem noch so entlegenen Landstrich. In Berlin und | |
Umgebung gibt es das Spreeradio. | |
Das Besondere am Spreeradio ist das „Achtziger-Jahre-Wochenende“. Von | |
Freitag bis Sonntag werden Hits gespielt, die man entweder millionenfach | |
gehört oder dreißig Jahre lang glücklich vergessen hat. Hits, die man | |
damals „nur so lala“ fand und jetzt für „gar nicht so schlecht“ hält.… | |
die man komplett mitsingen kann, und Hits, bei denen man sich wundert, dass | |
sie nicht nur aus ihren Refrains bestehen. Und die insgesamt eine | |
„Sound-Mood-Strecke“ bilden, die das trügerische Gefühl von Trost, Sicher- | |
und Geborgenheit vermittelt. | |
Dass es damals in den Achtzigern auch eine Bedrohungslage gab – Atomkrieg, | |
Umweltzerstörung, Otto Rehhagel bei Werder Bremen, Mathearbeiten – egal. | |
„It’s My Life“, „People Are People“, „Dancing in the Dark“, „Sw… | |
(Are Made of This)“! Volle Regression voraus. Es geht schon wieder los. | |
3 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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