# taz.de -- Die Wahrheit: Hamburg, meine Perle vor den Säuen | |
> Hamburg ist eine Reise wert. Aber ist die Stadt an Elbe und Alster | |
> wirklich schöner als beispielsweise Berlin? Vor Ort kommen Zweifel auf. | |
Berlin ist schrecklich, sozial anstrengend, hässlich und verbaut, Hamburg | |
dagegen das Tor zur Welt und einfach schön. In Hamburg ist alles | |
entspannter, die Leute haben diesen trockenen Humor und nehmen alles nicht | |
so ernst, wie man an der bloßen Tatsache der Existenz der Reeperbahn sieht. | |
So die gängige Meinung Einzelner. Dass das so nicht stimmt, habe ich am | |
Wochenende nachprüfen können. Da haben wir nämlich einen Ausflug an die | |
Alster gemacht. | |
Zuvor durften wir in Berlin noch mit ansehen, wie ein Taxifahrer aus dem | |
geöffneten Fenster heraus eine Radfahrerin beschimpfte und sogar bespuckte, | |
weil die über eine rote Fußgängerampel gefahren war. Auch die Autofahrerin, | |
die meinte, am Ende einer abgetrennten Radbahn parken zu müssen, ist eine | |
Erwähnung wert. | |
Es ist nicht so, dass ich voreingenommen wäre. Im Gegenteil habe ich | |
mehrere Verbindungen zu der Hansestadt. Meine großväterlichen Wurzeln, | |
Vaterseite, liegen dort, auch wenn sich der Rest der Hamburger | |
Verwandtschaft noch vor Corona innerhalb eines Jahres von allem Irdischen | |
verabschiedet hat. Auch mein Lieblingsverein stammt aus dieser Stadt, | |
siecht aber seit Jahren vor sich hin – und nein, es ist nicht der | |
mittelschlichte Kiez-Korrekt-Klub, der neben diesem klobigen Hochbunker | |
firmiert. Es ist der Verein der Hamburger Kleinbürger und Arbeiterklasse: | |
der große HSV. Außerdem gibt es viele, viele Bands aus dieser Stadt, deren | |
Platten bei mir zu Hause stehen, viel mehr als aus Berlin. | |
Aber darum geht es nicht. Es geht auch nicht um die Leute, die in Hamburg | |
gern hochnäsig herumlaufen oder sich im ungepflegten Understatement üben; | |
die einen wohnen in Blankenese oder am Rotherbaum, die anderen auf St. | |
Pauli oder in Altona. Es geht auch nicht um die supertrashige Bumsmeile | |
namens Reeperbahn, und besonders nicht um die ach so schmucke Totgeburt | |
namens Hafen City, in dem außer Elphitourismus und von Oligarchen | |
vermieteten Luxusapartments nicht viel geboten ist. | |
## Carchitecture | |
Es geht um den Verkehr. Um Verkehr und Architektur. | |
Es war nicht nur das Hotel, das einen Blick auf eine halb vollendete | |
Abrissbaustelle und zwei bis vier Ausfallstraßen inklusive | |
Ausfallstraßenbrücke bot. Nie war die Erfindung von Ohropax so wertvoll. Es | |
war auch nicht allein die Bahnhofsgegend, in der man im Zug am sichersten | |
war. Dort wurden behelfsmäßig ein paar rote Flächen auf die Gehsteige | |
gemalt, die Fahrradwege anzeigen sollen, aber wirken wie blutige | |
Todeszonen. Es war auch nicht die Innenstadt, in der an jeder Ecke gegraben | |
wird, um neue Büropaläste und Konsumtempel zu erschaffen. | |
Es ist das Gesamtpaket: eine Stadt voller Karikarchitektur, eine Stadt tief | |
in den Fünfzigern, mitten in einer Midlife-Crisis, in der „Verkehrswende“ | |
bedeutet, dass die fliegenden Abrissbirnen aus dem Zweiten Weltkrieg | |
eigentlich bald noch mal kommen müssten. | |
Fast so wie in Berlin. | |
8 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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