# taz.de -- Proteste in Nigeria: Ein ganzes Land in Aufruhr | |
> Was als Protest gegen Polizeigewalt in Nigeria begann, entwickelt sich zu | |
> einem landesweiten zivilen Aufstand. Jetzt schickt die Regierung die | |
> Armee. | |
Bild: Mit #EndSars forderten Demonstranten die Auflösung der Polizei-Sonderein… | |
COTONOU taz | Die Berichte werden jeden Tag besorgniserregender. Bewaffnete | |
Schläger sollen im Zentrum von Nigerias Hauptstadt Abuja friedliche | |
Demonstrant*innen angegriffen haben, Dutzende wurden verletzt. Nach | |
Informationen der Onlinezeitung Premium Times setzte die Polizei zudem | |
[1][Tränengas gegen die Protestierenden] ein. Später am Montag heißt es, | |
dass an strategischen Orten innerhalb der Hauptstadt Soldaten stationiert | |
worden sind. | |
Aus Kano, der Wirtschaftsmetropole des Nordens von Nigeria, kommen | |
ebenfalls am Montag Bilder von brennenden Reifen und friedlichen | |
Protestierenden, die die Kofar Mata Road, eine der Hauptverkehrsstraßen, | |
blockieren. | |
Nach Informationen von Amnesty International soll dort die Wut besonders | |
groß sein, ist doch am Morgen ein 17-Jähriger in Polizeigewahrsam | |
gestorben. Er wurde zu Tode gefoltert, twittert die | |
Menschenrechtsorganisation. Er war wohl nicht der einzige. Seit Beginn der | |
Proteste vor knapp zwei Wochen sollen mindestens 15 Menschen ums Leben | |
gekommen sein. Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt. Es gab viele | |
Verhaftungen. | |
Die Proteste, die Nigeria erschüttern, richten sich eigentlich [2][gegen | |
die Sondereinheit für Raubüberfälle (Sars)] innerhalb der nigerianischen | |
Polizei. Ihre brutale Vorgehensweise – vorgeworfen werden den Beamt*innen | |
unter anderem Folter, Verschleppung, Erpressung und illegale Verhaftungen – | |
steht seit Jahren in der Kritik. Vor knapp zwei Wochen sind die Proteste | |
aus den sozialen Netzwerken unter [3][#EndSARS] auf die Straßen gezogen. Es | |
sind vor allem junge Menschen, die sich die Gewalt des Staates nicht mehr | |
bieten lassen. Sie sind gut vernetzt. | |
## In Lagos kocht die Wut hoch | |
Als Nigerias Regierung unter Präsident Muhammadu Buhari vor einer Woche das | |
Ende von Sars bekanntgab und stattdessen die Gründung von Swat (Team für | |
spezielle Waffen und Taktiken) ankündigte, konnte sie die Demonstrant*innen | |
nicht besänftigten, im Gegenteil: In immer mehr Städten gehen die Leute auf | |
die Straße, und sie begnügen sich nicht mit Demonstrationen. | |
Am Montagnachmittag zeigen Videos, wie in der 20-Millionen-Einwohner | |
zählenden Metropole Lagos, die größte Stadt Afrikas, zahlreiche | |
Stadtautobahnen durch Straßenblockaden lahmgelegt sind. In einem anderen | |
ist ein wütender und symbolischer Trauerzug im Bundesstaat Edo zu sehen, | |
auf dem einfachen Holzsarg steht „RIP Buhari“, an den Präsidenten | |
gerichtet. In Edo sollen auch Polizeiwachen angegriffen worden sein, aber | |
auf den Wahrheitsgehalt lassen sich längst nicht alle Tweets und Bilder | |
prüfen. | |
Dass die Wut hochkocht, ist offensichtlich und es liegt an den Versprechen | |
und Beschwichtigungen, die die Regierung in den vergangenen Jahren immer | |
wieder geäußert hat, wenn es Ärger auf den Straßen gab, ohne tatsächlich | |
etwas zu ändern. In der Kritik steht auch die mangelnde Aufarbeitung von | |
Straftaten, die von Polizei und Militär begangen worden sind. | |
Unterstützung erhalten die Demonstrant*innen von | |
Menschenrechtsorganisationen, die Daten zu der Sondereinheit Sars | |
veröffentlicht haben. In den vergangenen Tagen haben zudem immer mehr | |
Kirchenvertreter – [4][in Nigeria mächtige Institutionen] – die | |
Polizeigewalt kritisiert. Aufgesprungen ist auch die politische Opposition, | |
etwa Atiku Abubakar, unterlegener Präsidentschaftskandidat im vergangenen | |
Jahr. Er forderte am Wochenende dazu auf, jenen zu gedenken, die vom | |
„ungerechten System ermordet worden sind“. | |
## Seltener Massenprotest in Nigeria | |
Der Protest eint Nigeria wie selten, da alle Gruppen und | |
Gesellschaftsschichten von staatlicher Gewalt und Willkür betroffen sind. | |
Unfaire Behandlung erleben an Checkpoints nicht nur Tagelöhner*innen oder | |
Fahrer, sondern auch die Mittelschicht. | |
Ansonsten sind Massenproteste in Nigeria eher selten. Zwar ist die | |
Unzufriedenheit mit der Zentral- und Regionalregierung sowie der | |
persönlichen wirtschaftlichen Situation oft groß. Doch Nigeria, wo rund 200 | |
Millionen Menschen leben, ist zersplittert. Die Bewohner*innen sind | |
Christen oder Muslime; Haussa, Igbo oder Yoruba; sie stammen aus Ogun, | |
Plateau oder Gombe. Eine gemeinsame nationale Identität fehlt ihnen oft. | |
Erfolgreich war ein Generalstreik in Nigeria zuletzt im Januar 2012, als | |
der Benzinpreis zum Jahreswechsel von 65 (rund 34 Euro-Cent) auf 141 Naira | |
stieg. Nach zwei Wochen des Protests wurde er auf 97 Naira festgelegt. Zu | |
Mahnwachen in verschiedenen Städten kam es auch 2014, nachdem die | |
[5][islamistische Terrorgruppe Boko Haram] im Bundesstaat Borno 276 | |
Schülerinnen aus dem Dorf Chibok entführt hatte. | |
2018 gelang auch der [6][Jugendbewegung #NotTooYoungToRun] ein bundesweiter | |
Erfolg: Mit Kundgebungen setzte sie die Senkung des passiven Wahlalters | |
durch und erhielt auch international Aufmerksamkeit. Jetzt gibt es eine | |
neue spektakuläre nigerianische Protestbewegung, und wie sie sich | |
entwickelt, ist offen. | |
19 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeigewalt-in-Nigeria/!5719525 | |
[2] /Polizeigewalt-in-Nigeria/!5697314 | |
[3] https://twitter.com/hashtag/ENDSARS?src=hashtag_click | |
[4] /Pfingstkirchen-und-Coronavirus/!5675919 | |
[5] /Zehn-Jahre-Boko-Haram-in-Nigeria/!5609892 | |
[6] /NotTooYoungToRun-Aktion-in-Nigeria/!5494682 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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