Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Argentinien und Corona: Die soziale Not wächst
> Erst rutschte Argentinien in die Rezession, dann kam der Corona-Lockdown.
> Vier von zehn Argentinier:innen leben nun unterhalb der Armutsgrenze.
Bild: Selbst ihr Zeltcamp sollen diese argentinischen Familien räumen. Wohin n…
Buenos Aires taz | Argentinien hat 2,6 Millionen Arme mehr als im
vergangenen Jahr. Schon vor der Pandemie lebten 35,4 Prozent der rund 45
Millionen Argentinier*innen unterhalb der Armutsgrenze. Jetzt sind es 40,9
Prozent und damit 18,5 Millionen Menschen, meldet die nationale
Statistikbehörde Indec. Durch den Corona-Lockdown hat sich [1][der bereits
über zwei Jahre andauernde Wirtschaftsabschwung] extrem verschärft.
Das Abrutschen aus der Mittel- in die Unterschicht ist in vollem Gang. Nur
die finanziellen Hilfsmaßnahmen der Regierung haben bisher verhindert, dass
weitere 1,2 Millionen Menschen in die Armut abrutschten. Im Vergleich zu
den Nachbarländern ist der Anstieg der Armut in Argentinien besonders
drastisch.
Marielena Munir gehört zu den neuen Armen. „Sechs Monate habe ich
durchgehalten“, sagt die 35-Jährige. Im August ließ sie zum letzten Mal die
Rollläden ihrer kleinen Modeboutique in Buenos Aires herunter. Jetzt hängt
ein großes Schild an ihrem ehemaligen Laden. „Zu vermieten“ steht darauf.
Wie auf allen Schildern, die entlang der Straße in jeder dritten Ladentür
hängen
„Mir sind 10 Prozent mehr Arme lieber als 100.000 Tote durch das
Coronavirus“, hatte Präsident Alberto Fernández im April gesagt, als er die
einen Monat zuvor verhängten Quarantänemaßnahmen verteidigte. [2][Lange
hatte die Regierung damit die Infiziertenzahlen niedrig halten können.]
Doch seit sie einige Lockerungen zulassen musste, pendelte sich die Zahl
der täglich gemeldeten Neuinfektionen um die 10.000-Marke ein.
## Corona vernichtet 4 Millionen Arbeitsplätze
Mit gegenwärtig über 800.000 registrierten Infizierten liegt Argentinien in
der Länderliste inzwischen auf dem achten Platz. 21.500 Tote wurden bisher
gezählt, aber auch rund 650.000 Genesene. Noch hat das Gesundheitssystem
die Lage im Griff, abgesehen von einige lokalen Überlastungen und
Engpässen.
In den Monaten März, April und Mai war das Bruttoinlandsprodukt im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 20 Prozent eingebrochen. Vier Millionen
Arbeitsplätze gingen im ersten Halbjahr verloren, meldete die nationale
Statistikbehörde. Betroffen sind vor allem Beschäftige in den
Dienstleitungsbranchen wie dem Tourismus, der Gastronomie oder eben im
Einzelhandel.
„Als ich im Juni wieder öffnen durfte, hatten die Leute kein Geld mehr für
neue Kleidung“, resümiert Marielena Munir. Hilfe vom Staat? Den zinslosen
Kredit für Selbständige hat sie in Anspruch genommen. „Zum ersten Mal in
meinem Leben war ich auf staatliche Unterstützung angewiesen.“ Jetzt hat
Munir nicht nur kein Einkommen mehr, sondern auch noch Schulden. „Die
Kreditkarte ist ausgereizt und die Strom- und Wasserversorger warten
darauf, dass ich die Rechnungen bezahle.“
Argentinien gilt als eines der wenigen Länder Lateinamerikas mit einer
breiten Mittelschicht. Doch die schrumpft immer weiter zusammen. Nur noch
32 Prozent der 45 Millionen Argentinier*innen werden dazu gezählt, meldet
die Marketingfirma Moiguer. Vor einem Jahr waren es 45 Prozent. Da ist es
nur ein schwacher Trost, dass auch die Zahl der Superreichen kleiner wurde.
Ihr Anteil an der Bevölkerung ist um einen Punkt auf 4 Prozent gefallen.
## Auswanderung erscheint vielen als einziger Ausweg
Die offizielle Armutsgrenze wird nach einem Basiswarenkorb für einen
Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern berechnet. In der ersten
Jahreshälfte lag der Wert des Korbs nach dem offiziellen Wechselkurs bei
umgerechnet 460 Euro. Dagegen liegt das monatliche Durchschnittseinkommen
der armen Haushalte bei nur rund 270 Euro.
Für viele Familien hat sich der Abstand zur Armutsgrenze vergrößert.
Innerhalb der einzelnen Einkommensklassen ist das Abrutschen in vollem
Gang. Von den 18,5 Millionen Armen leben inzwischen 4,7 Millionen
Argentinier*innen in extremer Armut, knapp 3 Prozent mehr als zu Beginn des
Jahres.
Auch Benjamín Ruffo zählt sich nicht mehr zur Mittelschicht. Lange
finanzierte er sich mit einem Job als Fitnesstrainer sein Studium. „Erst
wurde die Uni geschlossen, dann musste das Fitnesscenter dichtmachen“,
erzählt der 27-Jährige. Zwar gebe es virtuelle Seminare, aber eine andere
Einkommensquelle finde er nicht. „Noch kann ich meine Miete zahlen“, sagt
er.
Doch bald muss er zu den Eltern zurück. „Meiner Schwester geht es ähnlich.
Es sieht so aus, dass wir bald alle wieder unter einem Dach leben“, so
Ruffo. Und nach dem Studium? „Viele meiner Kommiliton*innen reden ganz
offen über eine Auswanderung nach Europa oder in die USA.“
7 Oct 2020
## LINKS
[1] /Argentinien-von-Corona-Armut-bedroht/!5699353
[2] /Anti-Corona-Protest-in-Argentinien/!5708448
## AUTOREN
Jürgen Vogt
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Argentinien
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Coronavirus
Argentinien
Schwerpunkt Coronavirus
Film
Argentinien
Argentinien
Landwirtschaft
Argentinien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Corona-Lockdown in Argentinien: Ausgangssperre im ganzen Land
Argentinien hatte 2020 schon einen der weltweit längsten Lockdowns. Jetzt
steigen die Zahlen erneut dramatisch an, und das Land macht wieder dicht.
Coronapandemie in Argentinien: Buenos Aires macht wieder zu
Wegen steigender Infektionszahlen geht Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires
in einen weiteren Lockdown. Auch das Impfen kommt nur langsam voran.
Impfskandal in Argentinien: Anruf beim Amigo genügt
In Argentinien erschleicht sich sogar der Chef einer
Menschenrechtsorganisation einen früheren Impftermin. Der
Gesundheitsminister musste gehen.
Argentinischer Filmemacher und Politiker: Pino Solanas ist tot
Er saß im Parlament und kritisierte die Folgen von Bergbau und
Agrarindustrie. Nun ist Pino Solanas mit 84 Jahren an Covid-19 gestorben.
Räumung in Argentinien: Überall brennende Hütten
In Argentinien haben 4.000 Polizisten ein besetztes Gelände geräumt, in dem
sich seit Juli Tausende verarmte Familien angesiedelt hatten.
Transgender in Argentinien: Argentinien führt Transquote ein
Ein Prozent aller Stellen im Staatsdienst soll in Argentinien künftig
Transsexuellen und Transgender-Personen vorbehalten bleiben.
Brandrodung im Delta des Paraná: Feuer ohne Ende
Allein im August wurden 7.000 Brandherde in dem argentinischen Feuchtgebiet
gezählt. Die Regierung verdächtigt die Rinderzüchter.
Auf Umschuldung geeinigt: Argentinien doch nicht pleite
Die Regierung hat sich mit den wichtigsten Gläubigern auf einen
Schuldentausch geeinigt. Die Vereinbarung ist mehr als nur eine Atempause.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.