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# taz.de -- Israel und das Corona-Virus: Im Schatten der Pandemie
> In Israel sind die Ultraorthodoxen seit Langem das Zünglein an der Waage.
> Mit ihrer Haltung zu Corona haben sie sich nun ins Abseits gestellt.
Bild: Protest gegen den Premier Netanjahu am Samstag in Tel Aviv. Seine Corona-…
Wie hältst du's mit den Ultraorthodoxen?“ – traditionell reagieren
diejenigen, die in Israel Regierungschef werden wollen, ausweichend. Der
Opportunismus in Bezug auf die ultraorthodoxen Parteien kommt jetzt in der
[1][Coronakrise wie ein Bumerang] auf das Land zurück.
Die Ultraorthodoxen sind bei der Regierungsbildung immer wieder das
Zünglein an der Waage. Dadurch hat die Minderheit der Haredim – der
Gottesfürchtigen, wie sie sich selbst nennen – enormen politischen
Einfluss. Sie sind derzeit die zuverlässigsten Koalitionspartner von
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Regierungsbildung gegen Privilegien,
so lautet der Deal immer wieder.
Kurz nach der Staatsgründung befreite der damalige Ministerpräsident David
Ben-Gurion die Haredim schon vom Wehrdienst. Er wollte so die Unterstützung
ultraorthodoxer Rabbiner für den neuen Staat gewinnen. Damals betraf die
Entscheidung nur einige Hundert Ultraorthodoxe. Doch die Ausnahme gilt bis
heute, auch wenn die Haredim mittlerweile 12 Prozent der Bevölkerung
ausmachen.
Unter den säkularen Israelis sorgt dies für Unmut. Auch dass viele der
Haredim den Staat zwar nicht als Autorität anerkennen, aber ihre vom Rest
der Gesellschaft abgeschnittenen Gemeinden von Steuergeldern finanziert
werden und selbst selten arbeiten gehen und Steuern zahlen. Es sind zwei
unterschiedliche Welten, doch was nicht passt, wird passend gemacht – so
könnte man das Motto der Regierungschefs bezeichnen, die mit den
Ultraorthodoxen in einer Koalition sitzen.
## Säkularer Unmut
Doch ob dies noch in der Zukunft gelten kann, [2][ist seit Corona
fraglich]: Denn aus Unmut vonseiten der Säkularen ist in der Krise mitunter
blanker Hass geworden. Viele haben das Gefühl, wegen der Ultraorthodoxen
erneut im Lockdown zu sitzen, und fürchten um ihre ökonomische
Existenzgrundlage. Denn Netanjahu hatte im vergangenen Monat auf Druck der
strenggläubigen Communitys den Ampelplan des Coronabeauftragen Ronni Gamzu
zurückgewiesen. Gamzus Plan hätte lediglich die Corona-Hotspots
abgeriegelt, die meisten von ihnen sind ultraorthodox geprägt. Stattdessen
wurde kurz darauf landesweit der Lockdown verhängt. Doch nicht nur dies:
Von den Ultraorthodoxen geht für viele die Gefahr einer Ansteckung aus.
40 Prozent der mit Corona Infizierten in Israel sind Ultraorthodoxe. Die
Infektionsrate ist damit fünfmal höher als im Rest der Bevölkerung. Das
liegt an der höheren Bevölkerungsdichte und an der vorhandenen Armut.
Teilweise haben sich die Strenggläubigen aber auch nicht an die Regeln der
sozialen Distanz gehalten.
September und Oktober ist die Zeit zahlreicher jüdischer Feste. Angesichts
der Infektionszahlen, denen Israel gegenüberstand, war es gerade für diese
Zeit entscheidend, mit den [3][Lockdown-Regelungen vor allem große
Veranstaltungen], wie sie in religiösen Kreisen zu den Feiertagen üblich
sind, zu verhindern.
## Illegale Massenveranstaltungen
Stattdessen gab es jeden Tag neue Medienberichte über illegale
Massenveranstaltungen von Ultraorthodoxen, die von der Polizei nicht
aufgelöst wurden: 4.000 Gläubige sollen danach vor drei Wochen zum Feiertag
Rosch ha-Schana ungestört in der Belz-Synagoge in Jerusalem gebetet und
gesungen haben. Zu der Beerdigung von Rabbi Mordechai Leifer, der an
Komplikationen von Covid-19 gestorben war, versammelten sich Tausende von
Männern Schulter an Schulter.
Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete zuletzt von einer Reihe von
Vereinbarungen zwischen radikalen haredischen Gruppierungen in Jerusalem
und der Polizei. Die Polizei soll den Ultraorthodoxen erlaubt haben,
Massenversammlungen abzuhalten, solange diese in keiner Weise dokumentiert
und öffentlich gemacht würden – und zudem in Innenräumen abgehalten werden,
damit sie vor der säkularen Öffentlichkeit verborgen bleiben.
Man muss differenzieren: Viele der Ultraorthodoxen sehen mittlerweile die
Gefahren von Corona und halten sich dementsprechend an die Regelungen. Doch
einige der radikalen Gruppierungen sind uneinsichtig. Auch sie fühlen sich
existenziell bedroht – durch die Einschränkungen ihres Lebensstils. Denn im
Zentrum ihres Lebens steht die religiöse Gemeinschaft, das kollektive Beten
und das gemeinsame Lernen. Mitunter entlädt sich der Zorn auf die
Staatsgewalt in physischer Gewalt.
## Netanjahu unter Druck
Netanjahu sitzt gewissermaßen in der Zwickmühle. Die Wähler*innen seiner
ultraorthodoxen Koalitionspartner sind maßgeblich für die hohen
Infektionszahlen mitverantwortlich. Gleichzeitig kann der Premier es sich
nicht erlauben, sie zu verprellen: Er ist in drei Korruptionsfällen
angeklagt und hält mit allen Mitteln an seinem Amt fest, nicht zuletzt, um
einen Aufenthalt im Gefängnis zu vermeiden.
Dem Zauberer, wie er in Israel mitunter genannt wird, könnten die Asse
ausgegangen sein. Er hat sich in seiner Residenz verbunkert, hält kaum noch
Fernsehansprachen, die er zu erfolgreicheren Zeiten so innig geliebt hat.
Seine Umfragewerte befinden sich im Sturzflug: Während Umfragen im Mai
Netanjahus Likud noch 41 Sitze im Parlament versprachen, sagen sie ihm nun
lediglich 26 Sitze voraus.
Nicht nur die Demonstrant*innen, die seit Monaten überall im Land seinen
Rücktritt fordern, haben ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. In
Schwierigkeiten ist er vor allem wegen der Ultraorthodoxen. Die Frage „Wie
hältst du's mit den Ultraorthodoxen?“ ist wegen des großen Zorns, den die
Frommen auf sich gezogen haben, zur israelischen Gretchenfrage geworden.
Das ist gut so. Es wird Zeit, dass Israel sich klar wird, welche Rolle
Religion und die Strenggläubigen im Staat spielen sollen.
11 Oct 2020
## LINKS
[1] /Verschaerfung-der-Coronaregeln/!5716404
[2] /Corona-in-Israel/!5717894
[3] /Proteste-in-Israel/!5715880
## AUTOREN
Judith Poppe
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