| # taz.de -- Umstrittenes britisches Brexit-Gesetz: Was steht im Gesetzentwurf? | |
| > Der Entwurf eines neuen britischen Binnenmarktgesetzes stößt auf Kritik, | |
| > weil er dem Nordirland-Teil des Brexit-Abkommens widerspricht. Eine | |
| > Analyse. | |
| Bild: Protest gegen den Brexit am Grenzübergang zu Nordirland in Carrickcarnon… | |
| Berlin taz | Die britische Regierung hat den [1][Wortlaut ihres Entwurfs | |
| für ein neues Binnenmarktgesetz] veröffentlicht, das seit zwei Tagen die | |
| Verhandlungen mit der EU über ein Handelsabkommen zu torpedieren droht. | |
| Seit Nordirlandminister Brandon Lewis am Dienstag im Parlament eingestand, | |
| dass das Gesetzesvorhaben internationales Recht bricht, herrscht große | |
| Aufregung in Brüssel, Dublin sowie in London selbst, dass Großbritannien | |
| gedenke, das bestehende Brexit-Abkommen mit der EU zukünftig zu ignorieren. | |
| Die genaue Lektüre des Gesetzentwurfs macht deutlich, worum es geht. Ziel | |
| des Gesetzes ist die Regelung des freien Verkehrs von Waren und | |
| Dienstleistungen im gesamten Vereinigten Königreich – also Großbritannien | |
| und Nordirland – unter Berücksichtigung des [2][Nordirland-Protokolls] des | |
| Brexit-Abkommens, das bis zuletzt der größte Stolperstein der | |
| Brexit-Verhandlungen gewesen war. | |
| Der Gesetzentwurf setzt einzelne Klauseln dieses Protokolls außer Kraft: in | |
| Bezug auf EU-Ausfuhrkontrollen auf Warenströme aus Nordirland nach | |
| Großbritannien sowie EU-Genehmigungen für britische Staatsbeihilfen mit | |
| Auswirkung auf Nordirland. | |
| Das [3][Nordirland-Protokoll], das im Oktober 2019 von Premierminister | |
| Boris Johnson neu verhandelt worden war, erklärt Nordirland zum Bestandteil | |
| des britischen Zollgebietes und nicht der EU-Zollunion. Die dadurch | |
| eventuell fälligen Zollkontrollen für Güterverkehr zwischen Nordirland und | |
| der zur EU gehörenden Republik Irland werden aber nicht an der | |
| inneririschen Grenze vorgenommen – die bleibt offen und unsichtbar –, | |
| sondern schon vorher: entweder in Nordirland selbst oder bevor britische | |
| Güter für die irische Insel Großbritannien verlassen. | |
| ## Streitpunkt Warenverkehr Nordirland – Großbritannien | |
| Waren, die von Großbritannien nach Nordirland unterwegs sind, müssen | |
| demnach nach EU-Regeln verzollt werden, sofern ein „Risiko“ besteht, dass | |
| sie in der Republik Irland und damit in der EU enden. Ob dieses Risiko | |
| besteht, entscheidet das Joint Committee aus Großbritannien und EU, das die | |
| Einhaltung des Brexit-Abkommens überwacht. Dies wird auch im neuen | |
| Gesetzentwurf nicht angetastet. | |
| Verändert werden soll hingegen die Regelung für Warenverkehr in die | |
| umgekehrte Richtung, also aus Nordirland nach Großbritannien. Hier geht es | |
| vorrangig um Warenverkehr, der komplett außerhalb der EU stattfindet und zu | |
| dem die EU daher aus britischer Sicht nichts zu sagen hat. Doch falls | |
| darunter auch irische Exportgüter für den britischen Markt sind, findet | |
| laut Artikel 6 des Protokolls auch hier das EU-Zollregime Anwendung. | |
| Der neue britischen Gesetzentwurf schafft dies nun im Namen des | |
| reibungslosen Funktionieren des britischen Binnenmarktes ab. Artikel 41 | |
| verbietet die Einführung bisher nicht existierender Kontrollen auf Waren, | |
| die aus Nordirland nach Großbritannien kommen, außer wenn dies nötig ist, | |
| um Verpflichtungen nach Artikel 6 des Nordirland-Protokolls einzuhalten. | |
| Wenn diese Verpflichtungen aber entfallen, sind auch diese neuen Kontrollen | |
| nicht mehr erlaubt – und laut Artikel 45 entfallen sie. | |
| Artikel 45 führt das Funktionieren der Artikel 42 und 43 des Gesetzestextes | |
| aus. Diese behandeln Ausfuhrkontrollen aus Nordirland nach Großbritannien | |
| sowie staatliche Beihilfen in Nordirland. Laut Artikel 42 ist es die | |
| britische Regierung, die die Regeln über den Güterverkehr von Nordirland | |
| nach Großbritannien erlässt – und das „kann beinhalten, dass Rechte, | |
| Ermächtigungen, Einschränkungen, Verpflichtungen, Restriktionen, Lösungen | |
| und Prozeduren, die ansonsten als Ergebnis relevanter internationaler oder | |
| nationaler Gesetzgebung Anwendung fänden, nicht anerkannt, angewandt, | |
| ausgeführt, zugelassen oder eingehalten werden.“ | |
| ## Entmachtung der Gerichte | |
| Eine gleichlautende Regelung wie Artikel 42 für den Warenverkehr aus | |
| Nordirland nach Großbritannien trifft Artikel 43 für britische | |
| Staatsbeihilfen mit Nordirland-Bezug. Hier gibt sich die Regierung das | |
| Recht auf alleinige Auslegung und Anwendung des Artikels 10 des | |
| Nordirland-Protokolls, wonach das EU-Beihilferecht für Nordirlands | |
| Landwirtschaft weiter gilt. Durch den neuen Gesetzestext muss die britische | |
| Regierung diese Bestimmung nicht mehr „im Einklang mit EU-Gesetzgebung“ | |
| auslegen und anwenden. Sie darf ebenso wie im Artikel 42 „relevante | |
| nationale und internationale Gesetzgebung“ ignorieren, kann also | |
| entscheiden, die EU außen vor zu lassen. | |
| Artikel 45 präzisiert: Zur „relevanten internationalen oder nationalen | |
| Gesetzgebung“ gehören sämtliche Brexit-Abkommen und britische | |
| Brexit-Folgegesetze sowie „jede andere Gesetzgebung, Konvention oder | |
| Regelung internationalen oder nationalen Rechts, welches auch immer, | |
| einschließlich jede Anordnung, Urteil oder Entscheidung des Europäischen | |
| Gerichtshofs oder jedes anderen Gerichts“. | |
| Sollte das Gesetz werden, wären damit nicht nur der Europäische | |
| Gerichtshof, sondern auch das oberste Gericht Großbritanniens machtlos. | |
| Damit das auch jeder versteht, führt Artikel 45 unmissverständlich aus, | |
| dass Artikel 42 und 43 und alle darauf basierenden Bestimmungen „nicht | |
| aufgrund von Unvereinbarkeit oder Unstimmigkeit mit relevanter | |
| internationaler oder nationaler Gesetzgebung als ungesetzlich erachtet | |
| werden dürfen“. | |
| Dieses auf zwei Bereiche beschränkte Aushebeln des Brexit-Deals hatte | |
| Nordirlandminister Lewis im Parlament am Dienstag als lediglich | |
| „spezifischen und begrenzten“ Rechtsbruch bezeichnet. Großbritanniens | |
| Regierung rechtfertigt ihr Vorhaben mit Artikel 6 des | |
| Nordirland-Protokolls: „Nichts in diesem Protokoll soll das Vereinigte | |
| Königreich daran hindern, ungehinderten Marktzugang für Güter zu | |
| gewährleisten, die aus Nordirland in andere Teilen des Binnenmarktes des | |
| Vereinigten Königreiches bewegt werden.“ Die möglichen Beschränkungen | |
| seitens der EU, die mit dem neuen Gesetzentwurf wegfallen sollen, seien im | |
| Lichte dieses Satzes selbst ein Bruch des Protokolls, lautet eine | |
| Argumentation in Verteidigung des neuen Entwurfs. | |
| ## Großbritannien auf Konfrontationskurs | |
| Gesprochen wird auch von der Notwendigkeit, den freien Warenverkehr | |
| zwischen Nordirland und Großbritannien und die volle britische Souveränität | |
| über Nordirland auch im Falle eines Scheiterns der laufenden | |
| Handelsgespräche mit der EU sicherzustellen. Da das Nordirland-Protokoll | |
| des Brexit-Abkommens der EU eine wichtige Rolle in Nordirlands Wirtschaft | |
| einräumt, wird gefürchtet, dass Brüssel dies als Druckmittel nutzen könnte. | |
| „Wir unternehmen begrenzte und vernünftige Schritte unter außergewöhnlichen | |
| Umständen“, heißt es aus 10 Downing Street. | |
| Dennoch fragen sich Kritiker nicht zuletzt in Irland, warum Großbritannien | |
| mit einem Gesetzestext voller sehr weitreichender, juristisch leicht | |
| anfechtbarer Formulierungen auf maximalen Konfrontationskurs geht. Die | |
| Klausel, wonach Gerichtsentscheidungen zum Thema ignoriert werden dürfen, | |
| ist vermutlich selbst ungesetzlich und dürfte von britischen Gerichten | |
| niedergeschlagen werden, sollte sie je das Parlament passieren. „Man sieht, | |
| warum Jonathan Jones (der Chefjurist der Regierung) zurückgetreten ist“, | |
| kommentiert Peter Foster – der Journalist der Financial Times, dessen | |
| Exklusivgeschichte über das Gesetzesvorhaben am Montag seither die Debatte | |
| bestimmt – den Gesetzestext. | |
| Juraprofessor Steven Peers, Spezialist für EU-Recht, wies bereits vor | |
| Monaten [4][auf seinem Blog] darauf hin, dass der Brexit-Deal umfassende | |
| Schlichtungsmechanismen für den Streitfall enthält und dass ein Vertrag | |
| nicht einfach außer Kraft gesetzt werden kann, auch nicht in einzelnen | |
| Teilen. | |
| Zum neuen Gesetzestext mahnt Peers: „Der Entwurf wird erst Gesetz, wenn das | |
| Parlament ihn verabschiedet hat.“ Selbst für den Fall, das das Unterhaus | |
| ihn mit seiner großen konservativen Regierungsmehrheit passieren lässt, | |
| könnte das Oberhaus – in dem die Konservativen keine Mehrheit haben – ihn | |
| für bis zu einem Jahr aufhalten. Bis dahin dürfte sich die Brexit-Situation | |
| bereits grundlegend geändert haben, da Ende 2020 die geltende | |
| Übergangsfrist nach dem britischen EU-Austritt ausläuft und danach entweder | |
| ein Handelsabkommen zwischen London und Brüssel in Kraft ist oder die | |
| Regelungen der Welthandelsorganisation WTO gelten. | |
| Das Gesetzesvorhaben dürfte aber bereits im Unterhaus für Zerwürfnisse | |
| sorgen. Schon am Dienstag hatte Expremierministerin Theresa May die | |
| Regierung gefragt, wie sie denn unter diesen Voraussetzungen Vertrauen mit | |
| internationalen Partnern herstellen wolle. Die Kritik bei der Opposition | |
| ist ohnehin einhellig, und auch in konservativen Reihen, gerade im auf den | |
| Respekt für bestehende Institutionen und Konventionen pochenden | |
| Establishment, ist sie seitdem eher größer geworden. | |
| 10 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://publications.parliament.uk/pa/bills/cbill/58-01/0177/20177.pdf | |
| [2] /Details-der-Brexit-Einigung/!5631603 | |
| [3] https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/… | |
| [4] http://eulawanalysis.blogspot.com/2020/02/how-do-you-solve-problem-like-sue… | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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