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# taz.de -- Arbeitsausstand im Personennahverkehr: Streik in vollen Zügen
> Thomas Heimbürger lässt seine Straßenbahn im Depot. Er streikt, so wie
> Zehntausende. Pendler müssen nun umsteigen.
Bild: Auch bei der Stuttgarter Straßenbahn: Nichts geht mehr
Frankfurt am Main/Hamburg taz | Mit Beginn der Frühschicht um drei Uhr
morgens haben in Frankfurt am Main die Straßenbahn- und U-Bahn-FahrerInnen
ihre Arbeit eingestellt, so wie in vielen deutschen Städten an diesem
Dienstag. In den Fahrerkabinen der abgestellten grünen Trams im Depot im
Gutleutviertel hängen rote Verdi-Fahnen: „Streik“ und „Jetzt in Personal
investieren!“ steht da.
Thomas Heimbürger, 49, schiebt seit Mitternacht Schicht im Streikbüro,
einem schmucklosen Aufenthaltsraum neben den Abstellgleisen. Nach neun
Stunden im Einsatz will er eigentlich nach Hause. Doch dann gibt er gerne
Auskunft. Seit 26 Jahren fährt Heimbürger Straßenbahnen, fast genauso lange
ist er Gewerkschafter. Er trägt ein Verdi-Shirt mit der Aufschrift
„Revolution 2.0“. Viele Arbeitskämpfe habe er erlebt: „Bei diesem Streik
ist alles anders“, räumt er ein.
In Frankfurt gibt es keine Demonstrationen, keine Reden, kaum Fahnen und
schon gar keine Menschenansammlungen – wegen der Coronapandemie. Im
Streikbüro halten sich an diesem Morgen nur ein Dutzend KollegInnen auf,
alle mit Mundschutz. Neben einem Getränkeautomat werden auf einem Tisch
Streiklisten geführt. „Wir haben mit dem Arbeitgeber vereinbart, dass sich
unsere Kolleginnen in die Streiklisten eintragen und dann nach Hause
gehen“, erklärt der Betriebsrat den Streik im Coronaformat.
Es ist der erste große Streik unter Coronabedingungen in Deutschland, und
er könnte nicht nur Auswirkungen auf die Streikenden haben, sondern auch
auf diejenigen, die trotzdem irgendwie zu ihren Arbeitsplätzen kommen
müssen. Das Virus verzeiht kein Gedränge.
## Keine Abstandsregel in der S-Bahn einzuhalten
Wie an vielen Straßenbahn- oder U-Bahn-Haltestellen irren in Frankfurt an
der Station Bonames Mitte Kinder und Erwachsene umher. An normalen Tagen
fahren hier im Minutentakt U-Bahnen stadtein- und auswärts. Vom Warnstreik
erfahren viele erst durch das Schriftband auf der Anzeigetafel. Wenigstens
die Busse fahren, anders als in manchen Kommunen. Mit dem 27er erreicht man
von hier aus immerhin die S-Bahn-Station Frankfurter Berg, allerdings nur
alle Viertelstunde. Die Sitzplätze im Bus reichen nicht aus. Die S-Bahn ist
von dem Streik nicht betroffen, weil sie als Bahntochter nicht zu den
kommunalen Arbeitgebern gehört. Auf den belebten Bahnsteigen und in den
überfüllten Zügen sind Abstandsregeln kaum einzuhalten.
Mehr Menschen als sonst sind in der Innenstadt mit dem Auto, Fahrrad oder
zu Fuß unterwegs. Lange Staus sind die Folge. Die Verkäuferin im Reformhaus
am Frankfurter Dornbusch öffnet das Geschäft am Morgen etwas atemlos. Auch
sie hatte erst an der U-Bahn-Station vom Ausstand erfahren und musste
deshalb durch die halbe Stadt radeln. Das fand sie ziemlich ärgerlich,
zumal sie nicht weiß, worum es bei dem Warnstreik überhaupt geht.
Das ist auch nicht ganz so einfach, räumt der Verdi-Mann Heimbürger ein. Es
laufen nämlich gleichzeitig drei Tarifrunden, erklärt er. Neu verhandelt
werden zum einen die Tarife im öffentlichen Dienst, da kam es schon am
Montag ebenfalls zu ersten Streiks in Kitas und Krankenhäusern. Zum Zweiten
geht es um die [1][Tarife für die im öffentlichen Personennahverkehr]
Beschäftigten in den Ländern. In Hessen war die erste Verhandlungsrunde am
Montag wie erwartet ohne Ergebnis vertagt worden. In einer dritten Runde
will Verdi zudem etwas Neues erreichen, nämlich einen bundeseinheitlichen
Rahmenvertrag für den öffentlichen Nahverkehr. Vor zwei Wochen haben die
Arbeitgeber diese Verhandlungen abgebrochen. Einen solchen
Rahmentarifvertrag lehnen sie kategorisch ab.
## Gewerkschaft will Verhandlungen erzwingen
Mit den Warnstreiks will Verdi die Wiederaufnahme genau dieser
Verhandlungen erzwingen. „Während der Coronakrise waren wir die Helden,
wenn uns jetzt die Arbeitgeber mit Nichtbeachtung strafen, hat das mit
Wertschätzung nichts zu tun“, sagt Verdi-Mann Heimbürger. Nicht zuletzt für
die Sicherheit der Fahrgäste sei es wichtig, dass im öffentlichen
Nahverkehr bundesweit Mindeststandards eingeführt würden, sagt er. Zwar
hielten Dienstpläne die gesetzlichen und tariflichen Vorgaben ein. In der
Praxis seien die Pläne aber so eng getaktet, dass vorgeschriebene Pausen
nicht eingehalten und Überstunden vorprogrammiert seien: „Die Pläne sind in
der Realität nicht fahrbar“, sagt er, deshalb verweigere er als Betriebsrat
immer häufiger die Genehmigung von solch unrealistischen Dienstplänen.
Seitdem vor zehn Jahren die Tarife beim Personennahverkehr vom übrigen
öffentlichen Dienst abgekoppelt worden seien, habe sich die Lage stetig
verschlechtert, klagt der Straßenbahner. Der Personalmangel führe zu
Überstunden, die Tarife seien zu einem unübersehbaren Flickenteppich
geworden. „Ich sehe nicht ein, dass ein Kollege in Stuttgart 500 Euro mehr
verdient als ich hier, für die gleiche Arbeit. In Hessen stehen uns im Jahr
immerhin 30 Tage Urlaub zu, warum nicht auch in allen anderen Ländern“,
wirbt Heimbürger für einen Rahmenvertrag. Verdi will außerdem zusätzliche
Entlastungstage, die unbefristete Übernahme aller Azubis und die Bezahlung
von Überstunden und Verspätungen durchsetzen, „von der ersten Minute an“.
Die Motivation der Kolleginnen ist jedenfalls da. „Heute früh ist kein Zug
rausgegangen“, zieht Heimbürger eine erste Bilanz. Wenig später wird sein
Kollege Jochen Koppel, der die Warnstreiks in ganz Hessen koordiniert, von
einer „Quote von 100 Prozent“ sprechen. Riskiert die Gewerkschaft mit
diesem Warnstreik nicht die weitere Ausbreitung des Coronavirus, weil an
Bahnsteigen, in Bussen und Bahnen an diesem Tag die Abstandsregeln nicht
einzuhalten sind? „Diese Schuld werde ich nicht auf mich nehmen“, antwortet
Heimbürger leicht pathetisch. Die Arbeitgeber hätten mit dem Abbruch der
Verhandlungen diese Warnstreiks verursacht, sagt er und fügt hinzu: „Man
muss doch mindestens miteinander reden!“
## Gewerkschafter: „Der Zeitpunkt ist wirklich sehr ungünstig“
In Hamburg ist in der Nähe des Hochbahn-Betriebshofs schon von Ferne eine
Kundgebung mit Verdi-Fahnen zu erkennen. Eine Gruppe Auszubildender hat
ihre Rucksäcke am Kantstein abgestellt. Mit einer Schablone sprüht einer
von ihnen „Wir sind unverzichtbar – jetzt seid ihr dran“ auf den Asphalt.
Verdi-Landesfachbereichsleiter Natale Fontane ruft die rund 200 Streikenden
per Megafon dazu auf, mehr Abstand voneinander zu halten. Und die Leute in
der S-Bahn, die jetzt dichter beieinander stehen müssen? „Wir haben
frühzeitig informiert, damit sich alle darauf einstellen können“, sagt
Fontane, und er sagt auch: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Verdi-Vertrauensmann Frank Klisch steht neben einem Tisch, auf dem
Streikunterstützungsformulare ausgefüllt werden können. Damit gibt es Geld
von der Gewerkschaft für die versäumte Arbeitszeit. Er räumt ein, dass es
bei Corona ein Dilemma gibt. „Der Zeitpunkt ist wirklich sehr ungünstig“,
sagt Klisch mit Blick auf die Pandemie. Aber nachdem es die kommunalen
Arbeitgeber rundweg abgelehnt hätten, überhaupt zu verhandeln, sei
bundesweit mobilisiert worden. „So ein Schiff hält man nicht mal eben an.“
Und wenn so viel Geld in die Rettung großer Unternehmen wie der Lufthansa
gepumpt worden sei, müsse es auch drin sein, dass die Arbeitsbedingungen
für die Bus- und U-Bahn-Fahrer verbessert werden.
An der Haltestelle Schützenstraße in Hamburg-Altona regiert Dienstag früh
um kurz vor sieben das Prinzip Hoffnung. Ein halbes Dutzend Menschen steht
in der Dämmerung am Stopp der Buslinie 3, einer der am stärksten
frequentierten Linien der Hansestadt.
## Vom Streik nicht mitbekommen
Brigitte Neumann-Wrage hat nicht mitbekommen, dass schon am Vortag die
Nachricht umging, dass in Hamburg wegen des Streiks nur vereinzelt Busse
und gar keine U-Bahnen fahren würden. „Wenn ich das gewusst hätte!“, sagt
sie. Jetzt steht sie da und hofft, dass wenigstens um ’58 ein Bus kommt,
oder wenigstens um ’4. Die Laufschrift an der Haltestelle lautet: „Aufgrund
des Warnstreiks der Gewerkschaft Verdi kommt es bis mindestens 12 Uhr zu
massiven Einschränkungen im Busbetrieb.“
Neumann-Wrages Hoffnung reicht bis zehn nach sieben. Dann macht sie sich
auf zum S-Bahnhof Holstenstraße, ein strammer Fußmarsch von zehn Minuten.
Die Frau mit ihren langen grauen Haaren ist auf den öffentlichen Nahverkehr
angewiesen. Ihr Fahrrad hat sie verschenkt. „Das ist mir zu hektisch
geworden“, sagt sie. Im Übrigen müsse sie nach Wilhelmsburg, und das liegt
auf der anderen Seite der Elbe.
Die [2][Hamburger S-Bahn] fährt, genauso wie in Frankfurt und anderen
Städten. Der Bahnsteig an der Holstenstraße ist nur locker bevölkert. Im
Zug Richtung Hauptbahnhof sind die Vierersitzgruppen nur mit jeweils zwei
Personen besetzt, das ändert sich auch nicht auf dem weiteren Zug in
Richtung Norden. Am Hauptbahnhof sagt ein Auspendler, es sei eher leerer
als sonst. „Wahrscheinlich fahren die alle mit dem Auto“, vermutet er.
Anders sieht es in der Gegenrichtung aus. Hier ist der Pendlerstrom
deutlich stärker. Wie üblich schweigen alle. Niemand beklagt sich.
„Ich find’s etwas unglücklich, dass während der Pandemie gestreikt wird u…
man in vollen Bahnen sitzt“, sagt Lucas Coronel, ein junger Mann mit
Seitenscheitel, der normalerweise in der U-Bahn unterwegs ist. Er hat
Glück, denn ob er die U- oder die S-Bahn nimmt, macht keinen großen
Unterschied. Ein Privileg, das nicht für alle Pendler gilt.
29 Sep 2020
## LINKS
[1] /Warnstreiks-im-oeffentlichen-Nahverkehr/!5713019
[2] https://www.s-bahn-hamburg.de/s_hamburg/view/index.shtml
## AUTOREN
Christoph Schmidt-Lunau
Gernot Knödler
## TAGS
Streik
Verdi
ÖPNV
Warnstreik
Schwerpunkt Fridays For Future
Streik
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