# taz.de -- Moria und Menschlichkeit: Härte gegen Arme bringt nix | |
> Die schnelle Hilfe für Menschen in Not wird oft abmoderiert damit, dass | |
> sie negative Langzeitfolgen hätte. Dabei sind wir langfristig eh alle | |
> tot. | |
Bild: Ein Mann aus einer Aristo-Familie: Österreichs Außenminister Alexander … | |
Um der Meinung zu sein, man solle die Kinder und Familien [1][aus Moria | |
retten], muss man kein Gutmensch sein. Mensch reicht. Gewiss kann man das | |
Framing des „die Kinder retten“ in Frage stellen – schließlich haben auch | |
23-jährige junge Männer Menschenrechte. Realpolitisch versaut, wie wir alle | |
schon sind, wissen wir aber [2][um die Umstände Bescheid], also auch um das | |
schwer zu leugnende Faktum, dass wir gegenwärtig allenfalls die Rettung von | |
Kindern und Familien durchzusetzen imstande sind. Nicht schön, aber nicht | |
zu leugnen. | |
In Österreich hat die Regierung unter Führung von Sebastian Kurz, sehr zum | |
Leidwesen der als Juniorpartner beteiligten Grünen, bisher die Aufnahme | |
auch nur einer Person verweigert. Die Konservativen sind seit Jahren damit | |
beschäftigt, den Rechtsextremen die Stimmen abzujagen, mit dem unangenehmen | |
Nebeneffekt, dass sie von den Rechtsextremen eigentlich nicht mehr | |
unterscheidbar sind. Jetzt im Wiener Landtagswahlkampf kopieren sie sogar | |
buchstäblich ihre Slogans. Also ja, buchstäblich: die ÖVP plakatiert die | |
Parolen, die die FPÖ vor fünf Jahren plakatiert hat. | |
Der Außenminister Alexander Schallenberg, ein Mann aus einer | |
Aristo-Familie, mit dem in diesen Kreisen üblichen, schnöseligen und | |
selbstverliebten, hochtrabend-herablassenden Sound und Habitus, | |
argumentierte unlängst im Fernsehen, man dürfe keine Kinder und Familien | |
retten, weil das nur andere Kinder und Familien ermutigen würde, sich nach | |
Europa auf den Weg zu machen. | |
Das ist, auch abseits des aktuellen Anlasses, die übliche Rhetorik der | |
Reaktion. Dass Handlungen, die unmittelbar Menschen helfen würden, | |
langfristig irgendwelche negativen Folgen hätten, weshalb man den Menschen | |
eben nicht helfen dürfe. Manchmal blicken die Reaktionären bei dieser | |
Argumentation traurig in die Kamera (was ausdrücken soll: „Wir wären ja | |
gerne menschlich, aber die Vernunft zwingt uns zur Unmenschlichkeit, wir | |
leiden selber am meisten darunter“), aber in den meisten Fällen spürt man | |
ihre Freude über die Aussicht, den Armen zu schaden. | |
Man kennt das auch aus anderen Zusammenhängen: Die Sozialhilfe muss | |
gestrichen werden, denn wenn man den Armen Geld gibt, dann strengen sie | |
sich nicht an. Das Arbeitslosengeld darf aus dem gleichen Grund nicht | |
steigen. Mietpreisbremsen darf es nicht geben. Die Löhne sollen schön | |
niedrig bleiben. Die Regierung darf keine Arbeitsplätze schaffen. | |
Arbeitnehmer dürfen nicht zu viele Rechte haben, denn das untergräbt deren | |
„Flexibilität“. In all diesen Fällen wird gesagt: Unterstützung für | |
Menschen hat zwar kurzfristig hilfreiche Auswirkungen für die Betroffenen, | |
aber langfristig fürchtet man irgendwelche negativen Folgen. Hilft man | |
Menschen, hat das schlechte, quält man sie, hat das gute Langzeitfolgen | |
„Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Man kann damit strengste | |
Hartz-IV-Regeln genauso rechtfertigen wie schwarze Pädagogik im | |
Klassenzimmer und den Kampf gegen Tarifverträge. | |
Vor allem die neoliberale Wirtschaftsdoktrin lebt von solchen | |
Vorstellungen, weshalb man sie auch als intellektuellen Sadismus bezeichnen | |
kann. Sie führt stets dazu, dass man meint, man müsse Erschwernis ins Leben | |
der Menschen bringen, irgendwelcher langfristiger Nützlichkeiten wegen. | |
Wohlgemerkt: ins Leben anderer Menschen. In ihrem eigenen Leben und für das | |
Leben ihrer reichen Freunderln haben sie es gerne bequem. Sie sind ja | |
„Leistungsträger“ und haben die Bequemlichkeit folglich verdient. | |
John Maynard Keynes, der große Ökonom, hat diese Argumentation von der | |
langfristigen Nützlichkeit fieser Gemeinheiten mit dem schönen Aperçu | |
erledigt: „Langfristig sind wir alle tot.“ Was er damit sagen wollte: Da | |
die Langzeitfolgen von hundert Maßnahmen, tausenden Handlungen von Menschen | |
und kaum voraussagbaren Zufälligkeiten abhängen und nie wirklich | |
prognostizierbar sind, solle man das tun, was unmittelbar den Menschen | |
hilft. Meist wird das dann auch positive Langzeitfolgen haben, und wenn | |
eine oder zwei nicht intendierte Nebenfolgen in zehn Jahren dazukommen, | |
kann man die dann immer noch korrigieren. | |
Der Konservativismus sieht in Menschen infantile Dummerchen, die man daher | |
mit harter Hand führen muss, was dann wiederum Auswirkungen auf Menschen | |
hat: sie folgen eher Verboten als der Vernunft. | |
Hier bei uns in Österreich explodieren gerade wieder die | |
Corona-Infektions-Zahlen, genauso wie in Israel und der Tschechischen | |
Republik. Ein Zufall? Alle drei Länder werden von harten Rechten mit | |
autoritärem Mindset regiert – die tun sich leichter damit, Menschen einfach | |
daheim einzusperren, und sehr schwer damit, die Bürgerinnen und Bürger | |
durch dialogisch-demokratische Führung zu vernünftigem Handeln zu | |
motivieren. | |
20 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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