# taz.de -- Die Wahrheit: „Es gibt keine Reichsflöhe“ | |
> O’zapft is! Zum heuer gecancelten Oktoberfest: das exklusive | |
> Wahrheit-Interview mit Henriette Klein vom Münchner Flohzirkus. | |
taz: Frau Klein, hallo, Frau Klein? | |
Henriette Klein: Hier, ich sitze hier unten. Direkt auf Ihrem Handrücken. | |
Wo denn? Ich kann Sie gerade nicht sehen. | |
Rechte Hand, gleich hinter dem Ringfinger. | |
Ja, jetzt sehe ich Sie. Aber Sie werden mich doch jetzt nicht stechen? | |
Keine Sorge, ich habe mich gestern erst satt gegessen. Das sollte erst | |
einmal für eineinhalb Monate reichen. | |
Eineinhalb Monate? | |
Ja, eineinhalb Monate. Nie gehört, oder? Immer das Gleiche: Die meisten | |
Menschen haben keine Ahnung von uns Flöhen, von unseren Nöten und | |
Bedürfnissen. Nur wenn sie gebissen werden, dann kratzt es sie. Sonst sind | |
wir total marginalisiert in der Gesellschaft. Das Thema | |
Antisiphonapterismus gehört endlich auf die Agenda. | |
Anti was? | |
Antisiphonapterismus. Flohhass oder Flohfeindlichkeit. Siphonaptera, so | |
heißen wir in der Wissenschaft. Aber das wissen Sie natürlich nicht. | |
Eigentlich wollte ich mit Ihnen über das Oktoberfest sprechen und was es | |
für Sie bedeutet, dass es in diesem Jahr nicht stattfindet. | |
Was soll das schon für uns bedeuten! Es ist eine Katastrophe. Niemand kann | |
sagen, ob es unseren Flohzirkus im nächsten Jahr noch gibt. | |
Seit 1948 gibt es den Flohzirkus auf der Wiesn. Das wäre ein gewaltiger | |
Verlust. | |
Es wäre das Ende einer großen Tradition. Und soll ich Ihnen mal sagen, wie | |
schwer es ist, diese Tradition aufrecht zu erhalten? | |
Ja, warum eigentlich nicht? | |
Wissen Sie, wir Flöhe, wir leben höchstens eineinhalb Jahre. Bei uns in der | |
Firma gehöre ich zu den wenigen, die überhaupt schon einmal ein Oktoberfest | |
erlebt haben. Nächstes Jahr wird kein Floh mehr leben, der sich an die | |
Wiesn erinnern kann. Die letzten Zeitzeugen werden in den kommenden Monaten | |
aussterben. | |
Und an die Tricks bei den Vorführungen kann sich dann auch keiner mehr | |
erinnern. | |
Das wäre ja noch zu verkraften. Was machen wir schon groß? Eine | |
Miniaturkutsche ziehen, auf einem kleinen Karussell fahren. Und dann | |
spielen wir noch ein bisschen Fußball. Das ist in zehn Minuten gelernt. | |
Springen und rumfliegen können wir ja sowieso. Aber was das Oktoberfest für | |
einen Floh bedeutet, wie man mit den Besuchern umgeht, all das ist | |
wertvolles Wissen, das nicht verloren gehen darf. | |
Was ist denn so besonders am Oktoberfest? | |
Das Bier natürlich, was haben Sie denn gedacht? | |
Sie trinken Bier? | |
Natürlich nicht aus dem Masskrug. Aber indirekt natürlich schon. Bei | |
einigen Flohzirkusbesuchern ist der Alkoholanteil im Blut phänomenal. Wenn | |
einer, den wir stechen, fünf Mass Wiesnbier intus hat, dann fällt auch für | |
unsereinen ein veritabler Rausch ab. Außerdem schmeckt es einfach. | |
Sie schmecken das Bier? | |
Ich kann mich noch gut an den ersten Schluck Blut von einem Mann erinnern, | |
der aus dem Bierzelt direkt zu uns in den Flohzirkus gekommen ist. Glauben | |
Sie mir, den Geschmack werde in mein Lebtag lang nicht vergessen. | |
Das ist ja nicht so lange. | |
Ja, leider. Aber verstehen Sie jetzt, warum das Oktoberfest für uns so | |
wichtig ist? Wir haben sonst nicht viel Freude in unserem Leben. Wenn ich | |
nur an die Klammerarme der Männchen denke, mit der sie sich bei der | |
Kopulation an uns Weibchen drücken. Es wird wirklich Zeit, dass die | |
#Metoo-Debatte endlich bei den Flöhen ankommt. Und die Jugend ist auch kein | |
Spaß. Wissen Sie, wovon sich die Larven ernähren? Von den Ausscheidungen | |
der Erwachsenen. Pfui Teufel! Da wird mir schon schlecht, wenn ich nur | |
daran denke. Ein tiefer Schluck Bierblut hilft natürlich dabei, all diese | |
Traumata zu vergessen. | |
Haben Sie ein Lieblingsbierblut? | |
Ja, da gibt es schon ziemliche Unterschiede. Aber das sieht sicher jeder | |
anders. Es hängt ja auch nicht nur von der Brauerei ab, wie der Stich | |
schmeckt. Ein ordentlicher Trinker, dessen Haut ein wenig nach der | |
Schafswolle seines Trachtenjankers duftet, ist mir da natürlich lieber als | |
eine blutjunge verschwitzte Neuseeländerin, die dazu noch ein bisschen nach | |
Erbrochenem riecht. | |
Ist es denn für einen Floh nicht auch sauber gefährlich auf dem | |
Oktoberfest? | |
Wo ist es für einen Floh nicht gefährlich? Wir werden eigentlich immer | |
übersehen und müssen aufpassen, dass nicht irgendein Tölpel auf einen | |
drauftritt. Das war auch bei der Demo so, die wir organisiert haben. | |
Eine Demo? | |
Ja, wir wollten gegen die gegen die Interessen der Flöhe gerichtete | |
Coronapolitik demonstrieren. Aber so richtig wahrgenommen wurden wir nicht. | |
Auch die Polizei, die gekommen war, um zu überprüfen, ob wir alle einen | |
Mundschutz tragen, ist regelrecht auf uns rumgetrampelt. | |
Sind sie möglicherweise eine Coronaskeptikerin? | |
Kommen Sie bloß nicht auf die Idee und stellen uns in die rechte Ecke! Wir | |
sind nichts anderes als besorgte Flöhe, denen man gerade die letzte Freude | |
nimmt, die ihnen geblieben ist. | |
Besorgte Flöhe, schon klar. | |
Und mit diesem Wutkoch haben wir auch nichts am Hut, obwohl er zu Insekten | |
ganz besonders nett sein soll. | |
Sie spielen auf das Porträt von Attila Hildmann im Spiegel an, in dem es | |
hieß: „Auf dem Waldweg liegt ein Käfer auf dem Rücken, er schafft es nicht | |
aus eigener Kraft auf die Füße. Hildmann dreht ihn um und setzt ihn an den | |
Wegesrand.“ | |
Das interessiert uns nicht. Wir haben mit den ganzen Spinnen, nein, | |
Spinnern nichts am Hut. Es gibt auch keine Reichsflöhe. Keiner von uns will | |
ins Kaiserreich zurück. Warum sollten wir auch? Daran können wir uns | |
sowieso nicht erinnern. | |
Was war denn das erste politische Ereignis, an das Sie sich heute ganz | |
bewusst noch erinnern können, Frau Klein? | |
Das weiß ich noch genau. Das war am 17. Juli 2019. Da hat der Bayerische | |
Landtag das Volksbegehren „Rettet die Bienen!“ angenommen. Ich war richtig | |
neidisch damals. Biene müsste man sein, habe ich mir gedacht. Was die für | |
eine Lobby haben! | |
Aua! Jetzt haben Sie mich doch gestochen. | |
Sorry, ich konnte nicht anders. Das ist der Instinkt. Aber wie heißt es so | |
schön? O’zapft is! | |
19 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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