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# taz.de -- Coronakrise im Einzelhandel: Tschüss Späti
> Ob Kiosk oder Media Markt, die Corona-Pandemie setzt den Ladenbesitzern
> massiv zu. Der Branchenverband befürchtet das Sterben vieler Geschäfte.
Bild: Der Einzelhandel in der Corona-Krise: Geschlossenes Geschäft in Stuttgart
Berlin taz | Für Späti-Betreiber Yalcin Tiryaki ist es der letzte Tag. Das
Lotto-Terminal schon abgeschraubt, anstelle der Werbe-Bildschirme über den
Zigarettenregalen hängen nur noch einige Kabel aus der Wand. Wo immer der
Cola-Kühlschrank stand, ist nur noch ein staubiges Quadrat auf dem Boden zu
erkennen. „Ich empfinde echte Wehmut, richtige Trauer“, sagt Tiryaki, 30
Jahre alt. Ab morgen ist er ehemaliger Späti-Betreiber in Berlin-Mitte.
Heute kommen vor allem Stammkunden vorbei, um Tiryaki und seinem Kleinladen
Lebewohl zu sagen. „Die Corona-Einschränkungen haben meinem Geschäft das
Genick gebrochen“, erklärt er eins ums andere Mal. Tiryaki hatte im Juli
zunächst abgewartet, ob sich der Umsatz nach der Aufhebung der ersten
Kontaktbeschränkungen nicht doch wieder erholen würde. Doch da im August
immer noch keine Erholung in Sicht ist, hat er aufgegeben. Tiryaki hat dem
Vermieter und den Lieferanten von der Tabak- bis zur Getränkefirma
gekündigt. Jetzt gibt es in der Louisenstraße keinen Nachbarschaftsladen
mehr.
Viele andere Geschäfte in Deutschland stehen ebenfalls vor dem Aus, obwohl
die zweite Welle der Corona-Pandemie noch gar nicht richtig begonnen hat.
Der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht 50.000 von 450.000 deutschen
Ladenstandorten akut bedroht. „Schon die erste Pandemie-Welle hat viele
Handelsunternehmen an den Rand der Insolvenz gebracht“, sagt
HDE-Hauptgeschäftsführers Stefan Genth.
„Eine zweite Welle würde auf einen teilweise extrem geschwächten
Einzelhandel treffen.“ Einer Verbandsumfrage zufolge sehen sich 27 Prozent
der Händler in ihrer Existenz gefährdet. Und in dieser Zahl sind die vielen
Lebensmittelgeschäfte noch gar nicht eingerechnet.
Selbst die Schwergewichte des Einzelhandels sind dagegen nicht immun. Die
Elektroketten Media Markt und Saturn wollen Filialen schließen, weil die
Corona-Pandemie die Verlagerung des Geschäfts ins Internet beschleunigt
hat. „Angesichts rückläufiger Kundenfrequenzen“ prüft der Mutterkonzern
Ceconomy nach eigener Auskunft, „europaweit in begrenztem Umfang defizitäre
Stores zu schließen.“ Es sollen zwar nur 20 Filialen sein, wie inoffiziell
zu hören ist. Dennoch markiert die Ceconomy-Entscheidung eine Abkehr vom
Wachstumskurs.
## Eingebrochene Umsätze vor allem bei Bekleidungsläden
Am meisten Sorgen macht sich der HDE derzeit um die Bekleidungsgeschäfte.
„Hier sind in der Corona-Krise große Umsatzlöcher entstanden, die nicht
wieder gestopft werden können“, sagt Genth. „Niemand kauft im Hochsommer
einen Übergangsmantel.“ Die deutsche Tochter der schwedischen Kette Gina
Tricot ist bereits insolvent. Der Laufschuh-Spezialist Runners Point will
sich aus Deutschland zurückziehen und alle 80 Läden abwickeln. Die bei
Jugendlichen beliebte Kette Tally Weijl aus der Schweiz schließt ein
Viertel ihrer 800 Filialen. Der Mutterkonzern von Zara, Inditex, hat
bereits angekündigt, weltweit 1.200 unrentable Geschäfte zuzumachen.
Doch auch die kleinen Läden sind bedroht, die zum sozialen Zusammenhalt der
Stadtteile beitragen. Tiryaki stand in den vergangenen 13 Jahren jeden Tag
12 Stunden im Laden. Viele seiner Kunden kannte er und hat ihnen die
gewünschte Ware schon hingelegt, bevor sie den Tresen erreichten; einige
von ihnen nannten ihn „Cem“, weil sie sich seinen richtigen Namen nicht
merken konnten.
Den meisten Umsatz brachte Tiryaki der Tabak, danach die Getränke, die
Süßigkeiten und das Lotto. „Die Einnahmen haben sich mit Beginn des ersten
Lockdowns halbiert“, sagt Tiryaki. Seine wichtigsten Kunden waren Studenten
und Mitarbeiter der nahen Uniklinik Charité, außerdem Angestellte aus den
umliegenden Bürogebäuden. Ein Zusatzgeschäft brachten die Touristen, die
sich vom Brandenburger Tor aus zuweilen in sein Viertel verirrten.
Nicht alle Kunden blieben aus, doch zuweilen kam eine Stunde lang überhaupt
keiner in seinen Laden – das gab es früher nie. Die Einnahmen reichen in
diesem Sommer gerade, um die Kosten wie die Miete zu decken. Ein
Überschuss, also das Einkommen für Tiryaki und seine Familie, konnte er
nicht mehr erwirtschaften.
## Programme passten nicht
In die Wirkung weiterer staatlicher Hilfen hat Tiryaki nur wenig Zutrauen;
bisher [1][passte jedenfalls keines der Programme richtig] zu seinem Fall.
Den Branchenverband bestätigt diese Beobachtung: „Nur ein kleiner Teil der
Unternehmen konnte bisher direkte Zuschüsse durch das Sofortprogramm
erhalten.“ Genth fordert daher einen Innenstadt-Fonds mit zusätzlichen 500
Millionen Euro. Ohne weitere Hilfen drohen seiner Ansicht nach
„Geisterstädte“.
Nur scheinbar paradox fordert er zugleich zusätzliche 100 Millionen Euro
[2][für die Digitalisierung kleiner Händler] – sie sollen eben auch vom
Trend zum Onlinehandel profitieren. Das kann aber auch helfen, Pleiten und
damit Ladenschließungen zu vermeiden.
Ungebrochen ist derweil der Wille der Kleinunternehmer im Einzelhandel,
sich nicht unterkriegen zu lassen. Yalcin Tiryaki plant im kommenden Jahr
sein Comeback. Eine so gute Lage wie diesmal in Mitte wird er zwar kaum
wiederfinden. „Doch ich werde mit Sicherheit wieder einen Späti aufmachen,
wenn diese Krise vorbei ist, und wir wieder Kunden haben.“
26 Aug 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Finn Mayer-Kuckuk
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