# taz.de -- Gescheiterter Warntag: Nicht nach Kichern zumute | |
> Probealarme gehörten für mich in der Vergangenheit zum Alltag. Der | |
> Warntag letzte Woche war ein Reinfall, viele waren amüsiert, ich | |
> beunruhigt. | |
Bild: Verlernt man nicht: Übung zur Verteidigung eines Atom- und Luftschlags i… | |
Immer mittwochs in der fünften Stunde hielten wir uns die Ohren zu. Wir | |
saßen an unseren Tischen in einer Ostberliner Polytechnischen Oberschule, | |
natürlich wussten wir, dass an diesem wie an jedem Mittwoch | |
[1][Probealarmtag] ist – und trotzdem fuhr uns das Geräusch zuverlässig in | |
die Knochen. Eine Minute schwoll der Sirenenton an und ab, und wenn sechzig | |
Sekunden um waren, spürten wir die Stille wie warmen Schaum in unsere Ohren | |
kriechen. | |
Jahrzehnte später, genauer gesagt am vergangenen Donnerstag, sollten ja | |
bekanntlich deutschlandweit die noch verbliebenen Sirenen getestet werden. | |
Passiert ist, nach allem, was man weiß, so gut wie nix. Selbst in unserer | |
benachbarten kleinen Kleinstadt im Brandenburgischen blieb es still. Dabei | |
haben wir intakte Sirenen. Jeden Samstagmorgen um zehn senden sie ihren | |
hohen Ton über die Mark – es ist der Dienst am Kriegsgott versunkener | |
Zeiten. | |
Meine Eltern hatten seine Melodie in ihrer Kindheit noch als Abmarschbefehl | |
in den Luftschutzkeller erfahren. Wir ostdeutschen Babyboomer lernten die | |
Signalsprache dann im Zivilverteidigungsunterricht. Feueralarm, | |
Katastrophenalarm, Atomalarm, chemischer Alarm, Entwarnung – manche Sachen | |
verlernt man nie. | |
## Die Zeiten sind angespannt | |
Dass letzte Woche alle so ein bisschen kicherig drauf waren, nachdem | |
[2][sich zum verabredeten Zeitpunkt nichts getan hatte, verwundert mich]. | |
Mag sein, ich bin da irgendwie ostdeutsch deformiert; aber ich fände es | |
schon in Ordnung, wenn es funktionierende Sirenen und Warnsysteme gäbe. Die | |
Zeiten, sie sind angespannt. Nach Kichern ist mir jedenfalls nicht zumute – | |
egal ob es die schweigenden Sirenen, die inaktiven Warn-Apps auf meinem | |
Handy oder – wie im Frühjahr – das Fehlen von Schutzmasken und | |
Desinfektionsmitteln ist. Ich hätte gern das Gefühl, dass da jemand den | |
Ernstfall für mich mitbedenkt, damit ich das nicht andauernd tun muss. | |
Es reicht ja, sich jenes Gefühl zu vergegenwärtigen, das sich einstellt, | |
wenn man auf der Autobahn in einen Riesenstau fährt. Wäre es nicht | |
beruhigend, zu wissen, was los ist? Wo der Unfall ist, was man | |
gegebenenfalls tun kann, wie lange es ungefähr dauert? Man sucht statt | |
dessen hektisch im Autoradio den lokalen Sender und muss minutenlange | |
Werbejingles durchleiden, bis eine Frauenstimme unangemessen fröhlich | |
erklärt, wo der Unfall sich ereignet hat. „Rechnen Sie mit neunzig Minuten | |
zusätzlicher Fahrzeit! Und jetzt – Musik von Phil Collins!“ | |
Nichts soll uns spüren lassen, dass sich da vorne in der Blechlawine gerade | |
komplette Biografien wenden, dass Leben enden. Dass da Schmerz ist. Statt | |
dessen Discofox aus den Achtzigern und ein wenig Polstermöbelwerbung. Dass | |
am Donnerstag der letzten Woche nichts gestört hat, weil Vater Staat seine | |
Angelegenheiten nicht geregelt kriegt, finde ich jedenfalls ziemlich | |
beunruhigend. | |
15 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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