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# taz.de -- Serie über die deutsch-deutsche Grenze: Rosenkranz und roter Stern
> Auf dem Hülfensberg erinnert sich Bruder Johannes an die Zeit im
> DDR-Sperrgebiet. Im Eichsfeld gelang es der SED nie, die Bevölkerung auf
> Linie zu bringen.
Bild: Bruder Johannes empfängt im Kloster auf dem Hülfensberg
Die Zufahrt zum Hülfensberg im thüringischen Eichsfeld gelingt erst im
zweiten Anlauf. Forstarbeiten haben die Straße unpassierbar gemacht. Es
heißt umkehren und von der anderen Seite des Berges erneut Anlauf nehmen.
Oben angelangt, läuft man die letzten Meter zu Fuß. Dann kommt das Kloster
in Sicht, das auf der Bergkuppe liegt, umringt von Bäumen, von denen der
Wind bereits Blätter geweht hat und diese nun über die Vorplatzwiese
tänzeln lässt. Bruder Johannes hat Kaffee in der Thermoskanne und Kekse auf
einem Tisch unter den Bäumen bereitgestellt.
Der Hülfensberg ist ein Ort, der einem den Ursprung des Wortes „lauschig“
ins Ohr säuselt: Unwillkürlich will man dem Rascheln des Laubes, den
Stimmen der Vögel, der stillen Ruhe des Berges und der umliegenden Täler
lauschen. Derzeit leben drei Franziskanermönche im Kloster, das so gar
nicht wie ein solches aussieht mit seiner holzverkleideten Fassade, dem
spitzen Dach aus roten Ziegeln, den blühenden Geranien und Holzbänken zum
Ausruhen. Die Gemeinschaft nimmt Gäste zum „Mitleben“ auf. „Nicht mehr a…
drei“, sagt Bruder Johannes, sonst komme das geistliche Leben zu kurz.
Das Kloster [1][Hülfensberg] gehört zum Franziskanerorden und lag bis 1990
auf DDR-Staatsgebiet, innerhalb der fünf Kilometer breiten Sperrzone, die
die Staatsführung Ende Mai 1952 einzurichten beschlossen hatte. Aus der
Zonengrenze wurde eine Staatsgrenze und mehr als das. Sie durchschnitt
familiäre, soziale und regionale Bande. Eine durchlässige Linie wurde
undurchlässig. Gelang es, die sozialen Bindungen diesseits und jenseits der
Grenze zu kappen? Sind die gemeinsamen kulturellen Wurzeln des Eichsfelds
verloren gegangen?
Das Eichsfeld ist eine katholische Enklave und historische
Kulturlandschaft. Fast tausend Jahre gehörte es zum Erzbistum Mainz. Eine
fast gottgegebene Westorientierung und konfessionelle Zugehörigkeit, die
der Region in der protestantischen und bemüht atheistischen DDR besonderes
Augenmerk eintrug.
Bruder Johannes, Jahrgang 1963, der Mann in der braunen Kutte mit dem
weißen Gürtel und dem rheinischen Zungenschlag, hat Ludwig Schmidt zum
Gespräch dazugeladen. Der 72-Jährige stammt aus Bebendorf, einem der beiden
Dörfer am Fuße des Hülfensbergs. Schmidt war schon als Kind Messdiener in
der auf dem Klostergelände liegenden Wallfahrtskirche, die auch für die
umliegenden Gemeinden zuständig war. Denn der Hülfensberg ist nicht nur
Kloster, sondern auch ein bedeutender Pilger- und Wallfahrtsort. „Viermal
die Woche kamen wir“, erinnert sich Schmidt, „selbst wenn hoch Schnee lag�…
An den großen Wallfahrten wie der am Dreifaltigkeitstag nahmen bis zu
18.000 Menschen teil.
Das war vorbei, als das SED-Regime 1952 die Grenze abdichtete. Nur wer in
den Dörfern innerhalb der Sperrzone lebte und älter als 25 war, durfte die
Kirche auf dem Hülfensberg besuchen. Schon die sowjetische Administration
hatte Wallfahrten nur unter Auflagen genehmigt. Wer teilnehmen wollte,
musste sich beim Pfarrer anmelden, der wiederum bei der Polizei die
Teilnehmerliste genehmigen lassen musste. Viele Eichsfelder hielten – wie
Ludwig Schmidt, der in der lokalen LPG arbeitete – an ihrem Glauben fest.
In der Partei sei er nie gewesen, erzählt der Mann im gelb karierten Hemd,
der, weil er als politisch unverdächtig galt und Familie hatte, trotzdem
auf den zwischen den Grenzzäunen gelegenen Feldern arbeiten durfte.
Ein Leben im Dauerausnahmezustand. Wer im Sperrgebiet wohnte, hatte einen
roten oder blauen Stempel in seinem DDR-Pass: rot für den noch schärfer
bewachten „500-Meter-Schutzstreifen“, blau für die Sperrzone. Es gab
Ausweiskontrollen, Passierscheine, es herrschte eine nächtliche
Ausgangssperre. Durch Zwangsumsiedlungen wurde die Bevölkerung systematisch
reduziert. Zu Besuch kommen durften nur Verwandte ersten Grades, und das
auf Antrag und zu besonderen Anlässen. Im [2][Grenzlandmuseum] Eichsfeld in
Teistungen hängt ein Foto von Trauerkränzen, die im Westen lebende
Verwandte an den Grenzzaun gehängt hatten. Eine Note des Protests und des
Beileids.
Der Hülfensberg wirkt wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Gen Westen
war der Blick ins Tal zu DDR-Zeiten nicht durch eine Hecke, sondern durch
Absperrungen verwehrt. Jetzt steht dort eine Panoramatafel mit der
Aufschrift „Als der Westen mehr als nur eine Himmelsrichtung war“. Gen
Osten ragt ein achtzehn Meter hohes Metallkreuz in die Luft, das mit
elektrischen Lichtern bestückt ist. Als dieser Teil des Landes noch DDR
hieß, leuchtete es trotz Verbots in die Nacht – als Symbol stillen
Widerstands und Zuspruchs für die Menschen im Tal.
## Bruder Erwin, der letzte Mönch zu DDR-Zeiten
Die letzten sechs Jahre der DDR lebte nur noch ein Franziskanermönch im
Kloster, das der Orden eigentlich beschlossen hatte zu schließen: Bruder
Erwin, der auf dem kleinen Klosterfriedhof begraben liegt. Seinem
Einfallsreichtum, den behördlichen Anweisungen zu trotzen, soll es zu
verdanken sein, dass nachts das Kreuz beleuchtet war. Als jetzt die
Corona-Epidemie das soziale Leben lahmlegte, leuchtete das Kreuz in den
ersten Wochen wieder, erzählt Bruder Johannes.
Wer auf den Hülfensberg geht, sucht Abgeschiedenheit oder Ratschlag. Das
Kloster ist im Besitz einen Gehülfen, dem es seinen Namen verdankt. Er
verspricht – niederdeutsch – Hülfe, also Hilfe: Es handelt sich um eine
Christusfigur aus Holz, vermutlich aus dem 11. Jahrhundert, die in der
Wallfahrtskirche hängt. Für viele Gläubige war der Gehülfe viele Jahre lang
nicht zu sprechen. Dennoch bewahrte der Ort seine Ausstrahlung, er blieb
für die Menschen diesseits und jenseits der Grenze ein Bezugspunkt. 1980
errichteten westexilierte Landsleute in Sichtweite der Grenze das
„Eichsfelder Kreuz“. Sie veranstalteten ihre eigene Wallfahrt und
beschallten die andere Seite der Grenze mit Lautsprechern, deren Bewohner,
wie Ludwig Schmidt erzählt, vom dörflichen Friedhof aus hätten rüberwinken
können.
„Für meine Eltern war der Hülfensberg ein Sehnsuchtsort“, sagt ein anderer
Eichsfelder, Torsten W. Müller. Gleich nach der Grenzöffnung seien sie
nicht etwa nach Berlin, nicht ins KaDeWe, sondern als Erstes zum Kloster
gefahren. Müller hat Expertise von Haus aus: promoviert in katholischer
Theologie und Kirchengeschichte und „stark im Milieu sozialisiert“. Er
leitet das kulturgeschichtlich orientierte Eichsfeldmuseum im Heilbad
Heiligenstadt, rund 25 Kilometer nördlich vom Hülfensberg.
Müller kann erklären, was er mit Milieu meint: „Das lebendige Brauchtum,
der durch die katholischen Feste geprägte Alltag. Die Partei konnte nicht
Fuß fassen, weil alles in katholischer Hand war: Kinderbetreuung, Schule,
Gewerkschaften.“ Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der Staat stückweise
durchgesetzt – katholische Schulen wurden geschlossen, die katholischen
Verbände marginalisiert. Doch insgesamt, sagt Müller, „war das Milieu
stabil“. Bis zum Ende der DDR gingen die meisten katholischen Kinder zur
Kommunion und Firmung statt zur Jugendweihe.
War das katholische Eichsfeld widerständiger als andere Teile der DDR? Und
warum? „Das ist ein zu großes Wort“, sagt Müller. Er spreche lieber von
„Nonkonformismus“. Die DDR habe ihre Ideologie und Programmatik einfach
nicht durchsetzen können – Parteikader mussten von außen implementiert
werden. „Wir Eichsfelder hatten halt schon eine Weltanschauung.“ Historiker
sprechen von „[3][Rosenkranzkommunismus“], der von der Ostberliner
Parteizentrale ebenso belächelt wie bekämpft wurde. Gerade das
industriearme, als rückständig betrachtete Milieu im Eichsfeld ließ sich
nicht so schnell vereinnahmen.
Das [4][Eichsfeldmuseum] ist in einem ehemaligen Jesuitenkolleg in
Heiligenstadt untergebracht. Auf die Jesuiten ist auch zurückzuführen, dass
das Eichsfeld während der Gegenreformation wieder katholisch wurde. Gern
führt Torsten Müller, ein junger Mann mit blondem Lockenkopf und dunkler
Brille, durch „das schönste Treppenhaus“ der Region: eine großzügige
Holzkonstruktion mit kunstvoll gedrechseltem Geländer, die über zwei Etagen
führt, bis man oben unter einem barock ausgemalten Deckengewölbe steht. An
diesem Wochentag finden nur vereinzelt Reisende den Weg in das Museum.
Wie standen die Eichsfelder zur friedlichen Revolution? Als im Herbst 1989
die Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland rasant zunahmen, sagt Müller,
hätten sich die Eichsfelder relativ spät an den Protesten beteiligt. Dafür
aber umso entschlossener. Die Region habe als erste in der DDR „den
Elitenwechsel vollzogen“. Noch im Dezember 1989 hatte Heiligenstadt den
ersten frei gewählten Bürgermeister des Landes.
## Lange Tradition des Widerstandes
Im Schnelldurchgang führt Müller durch die Historie des Eichsfeldes – mit
einem „x“ gesprochen. 70 Prozent der Bevölkerung besaß zu DDR-Zeiten die
katholische Konfession, doch politisch-administrativ war das Eichsfeld
schon seit dem 19. Jahrhundert geteilt: ein Stück kam 1815 zum Königreich
Hannover, ein anderes zur preußischen Provinz Sachsen. 1866 war dann beides
preußisch. Das protestantische Preußen – Kerngebiet der späteren DDR –
versuchte in einem Kulturkampf den Eichsfeldern ihren Katholizismus
auszutreiben. Vielleicht gründet darauf die Mentalität eines katholischen
Bollwerks gegen staatliche Strukturen. Die Siegermächte griffen 1945 auf
die alte administrative Grenze zurück: ein kleiner Teil des Eichsfeldes –
genauer gesagt: des Untereichsfeldes – gehört deswegen bis heute zu
Niedersachsen, vier Fünftel zu Thüringen.
Tickt man im Untereichsfeld anders? An der thüringisch-niedersächsischen
Grenze liegt das Dorf Siemerode, 750 Einwohner. Es gibt eine Kirche und die
Hauptstraße, von der die Weißenbörner Straße abzweigt. Wo es heute durch
eine weiche grüne und hügelige Landschaft ins zwei Kilometer entfernte
Weißenborn geht, war bis 1989 am Ortsende Schluss. Elektrischer Zaun,
Selbstschussanlagen, Grünstreifen, Metallstreckzaun. Siemerode lag im
DDR-Sperrgebiet. Dennoch entschloss sich Cornelia Reiher 1987 „aus einer
Spinnerei“ heraus, wie sie sagt, hier ihr eigenes Eiscafé aufzumachen, das
seither Conny’s Eiscafé heißt.
Punkt 14 Uhr öffnet die Frau mit silberfarbenem Pagenschnitt die Luke über
dem Tresen, in dem ihre hausgemachten Eissorten auf Kundschaft warten.
„Blaubete“ ist neu, eine gelungene Mischung aus Blaubeeren und Roter Bete.
Nur drei Sorten hätte sie anfangs im Angebot gehabt, sagt Reiher, die
Bauzeichnerin gelernt hat: Erdbeer und Vanille für je 15 Pfennig die Kugel,
Schoko für 20 Pfennig. Die Genehmigung für das Eisgeschäft habe sie nur
bekommen, weil ihr Mann sich verpflichtet hatte, die HO-Gaststätte in
Kommission zu übernehmen.
Anträge, Hygienevorschriften, Eisschulung – die Anfänge waren schwer. Die
Zutaten für Eis gab’s nur einmal im Jahr, die musste Reiher horten und
strecken. Heutzutage stehen Kinder aus Siemerode an, doch oftmals kämen
auch Wanderer und Radfahrerinnen vorbei, die das hinter dem Dorf
verlaufende „Grüne Band“ ablaufen oder abfahren, erzählt Cornelia Reiher.
Wie lebte es sich in unmittelbarer Nähe zur bewachten Grenze? Sie erinnert
sich an „das Gefühl von Einschüchterung“, auch wenn sie insgesamt „gut
klargekommen“ seien. Zur Jugendweihe sei dennoch niemand im Dorf gegangen.
Stattdessen gab es, so nahe an der Grenze, Westfernsehen und, um die
Menschen im Sperrgebiet bei Laune zu halten, Lohnzuschlag und eine bessere
Versorgungslage, ergänzt ihr Mann, der sich mit an den Tisch gesetzt hat.
Gut kann sich das Ehepaar an die Silvesternacht 1989/90 erinnern. Die
Dorfkneipe sei leer gewesen, das Dorf wie entvölkert und die
Aufbruchsstimmung in der Winternacht an der außer Kraft gesetzten Grenze
unvergesslich. Jemand hatte den Grenzzaun durchschnitten. Weißenborner und
Siemeroder schlossen in dieser Nacht Bekanntschaft im Niemandsland. Seither
tanzen sie jedes Jahr gemeinsam in den Tag der Einheit. Und feiern am
nächsten Morgen gemeinsam Gottesdienst – ökumenisch.
Die Vereinigung war für viele eine Herzensangelegenheit. Schon im Januar
1990, als Ostberliner Intellektuelle und Bürgerrechtler*innen noch vom
Dritten Weg und einer demokratischen DDR träumten, fand in Heiligenstadt
die sogenannte Kofferdemo statt: 40.000 Menschen bildeten eine
Menschenkette, um mit Koffern eine Flucht zu simulieren und ihrem Wunsch
nach einem vereinten Deutschland Ausdruck zu verleihen.
## Das Eichsfeld, wertkonservativ bis in die Knochen
Das Eichsfeld ist wertkonservativ und bis heute CDU-Land, im Kreistag des
Landkreises hat die Partei zwar ihre absolute Mehrheit verloren, aber sie
kommt immer noch auf 22 von 46 Sitzen. Die AfD hält nun 6 Sitze inne, die
NPD 1. Trotzdem hat der aus Hessen zugezogene Björn Höcke im Eichsfeld
seinen Wohnsitz gewählt.
Für Peter Nolte, den ehemaligen Ortsbürgermeister von Siemerode, ist die
Grenze, nein die deutsche Einheit Lebensthema. Er lebt mit seiner Frau in
einer Zweizimmerwohnung in einem DDR-Plattenbau. Nolte hat drei Alben
herausgesucht und auf dem Wohnzimmertisch bereitgelegt. Darin dokumentieren
Fotos, Einladungen, handschriftliche Aufzeichnungen die mittlerweile ins
31. Jahr gehenden Feiern zum „Tag der Einheit“.
Der Mann im hellgrünen Polohemd ist stolz: Schon 30 Jahre lang feiern sie
die Einheit, immer mit der gleichen Kapelle, zu den gleichen Preisen, mit
den gleichen drei Liedern: der Nationalhymne, dem Niedersachsen- und dem
Eichsfeld-Lied. „Mit Deutschland einig Vaterland“ hat hier niemand ein
Problem. „1990 haben alle geheult“, sagt Nolte. Dass ausgerechnet in diesem
Jahr der „Tanz in die Einheit“ wegen Corona ausfallen muss, trifft ihn
hart.
Offiziell getragen werden die Feierlichkeiten von den Bürgermeistern der
Kommunen Siemerode und Weißenborn sowie ihren evangelischen und
katholischen Pfarrgemeinden. Organisiert wird alles von einem Kreis an
Leuten aus beiden Ortschaften, Peter Nolte mittenmang, die in jener
„gesetzlosen“ Übergangszeit Freundschaft fürs Leben geschlossen haben. 19…
hatte Nolte das erste und einzige Mal seinen Onkel in Weißenborn besuchen
dürfen. „Ich stand da, wo wir als Kinder gespielt hatten, in der Hand den
rot-weißen Grenzpfahl“, erinnert er sich. „Ich konnte unsere Küchengardin…
sehen, es war so nah und so weit zugleich. Ich hatte einen Krampf in der
Kehle. Und kein Telefon, um zu Hause anzurufen.“
Niemals hätte er sich damals vorstellen können, dass die Grenze einmal
verschwinden würde. Inzwischen sind eine kommunale Partnerschaft und
private Freundschaften entstanden, die über die Grenzen des Eichsfelds und
der konfessionellen Zugehörigkeit hinausgehen: Denn Weißenborn gehört gar
nicht mehr zum Eichsfeld. Die Grenze war Kreisgrenze, Landesgrenze,
Staatsgrenze, Konfessionsgrenze in einem, zählt Nolte auf. „Lasst uns die
Einheit leben“ ist seither sein Motto.
Der einstige Abteilungsleiter eines Kleinmetallbetriebs in Heiligenstadt
ist, als er einen Meisterlehrgang absolvieren wollte, lieber der CDU als
der SED beigetreten. Nach der Wende blieb er in der Partei. „Jetzt wohnen
wir genau in der Mitte von Deutschland“, sagt Nolte zufrieden.
Jedes Dorf, jede Familie kann eine eigene Geschichte der Teilung und
Wiedervereinigung erzählen. Nicht alles ist wieder oder neu
zusammengewachsen. Für Bruder Johannes vom Hülfensberg ist „die Grenze
latent noch da“, das fange schon bei den Sportvereinen an. Er freut sich,
dass das Kloster ein ökumenischer Ort geworden ist. Ludwig Schmidt, der
einstige Messdiener, spricht davon, dass viele „drüben“ arbeiten. Er meint
die angrenzenden westlichen Bundesländer. Die Dörfer im Eichsfeld sterben
den langsamen Tod vieler deutscher Gemeinden.
## Der Katholizismus auf dem Rückzug
Hat der Katholizismus seine bindende Kraft verloren – jetzt, wo der Staat
nicht mehr Gegenspieler ist? „Die Bedeutung der Kirche nimmt ab“, sagt
Torsten Müller vom Eichsfeldmuseum. Hoch im Kurs stünden Riten wie Hochzeit
oder Taufe. „Da ist vielleicht auch ein wenig Folklore dabei.“ Der
Museumsmann sitzt im Förderverein des Franziskanerklosters Hülfensberg.
Dort führt Bruder Johannes seinen Besuch in die Wallfahrtskirche. Rechts
vom Altar hängt der Eichsfelder Gehülfe am Kreuz. Es zeigt nicht den
leidenden, sondern den wieder auferstandenen, still triumphierenden
Christus. Er trägt Königs- statt Dornenkrone.
Bruder Johannes bittet darum, noch ein paar Schritte nach rechts zu machen.
Der Gehülfe lächelt, andeutungsweise. Für Bruder Johannes ist es „das
Gesehenwerden“, das sich in diesem Lächeln spiegelt. Vielleicht ist das der
Grund, warum es der Hülfensberg durch die Jahrhunderte geschafft hat. Er
hat Trost gewährt. Kirchenfolklore, Politfolklore hin oder her. Nur die
Toten an der Grenze kann er nicht wieder lebendig machen. Dort wächst jetzt
das Gras.
15 Sep 2020
## LINKS
[1] https://www.huelfensberg.de
[2] http://www.grenzlandmuseum.de
[3] https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=3&titel_nr=9064
[4] https://www.heilbad-heiligenstadt.de/politik-verwaltung/stadtverwaltung/eic…
## AUTOREN
Sabine Seifert
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