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# taz.de -- Fünf Jahre in Deutschland: Angekommen in Bayern
> Omara Chaar studiert heute in Passau an der Universität, Leen Shaker
> arbeitet als Zahnärztin in München. Zwei Geflüchtete erzählen.
Bild: Erst mittelloser Flüchtling, heute erfolgreicher Student: Omara Chaar in…
München/Passau taz | Ende August 2020. Leen Shaker hat Mittagspause und
damit Zeit für ein Gespräch in der kieferorthopädischen Zahnarztpraxis im
Münchner Stadtteil Nymphenburg. Das Wittelsbacher-Schloss steht unweit der
Praxis. „Seit einem Jahr arbeite ich hier“, erzählt die aus Syrien
stammende Ärztin. „Ende September habe ich nun meine letzte Prüfung zur
Kieferorthopädin.“ Shaker hat mittlerweile den sogenannten unbefristeten
Aufenthaltstitel bekommen – sie kann dauerhaft in Deutschland bleiben. Die
33-Jährige strebt nun auch die deutsche Staatsbürgerschaft an. Ihr Chef
konnte ihr im überteuerten München ein Apartment vermitteln, ihr Freund
studiert in Passau Betriebswirtschaft.
Vor fünf Jahren war Leen Shaker am Passauer Hauptbahnhof von Österreich her
in Deutschland angekommen. Mit fast nichts, wie so viele Flüchtlinge in
diesen Wochen damals.
In Passau sitzt Omara Chaar zusammen mit Sonja Steiger-Höller draußen im
Theatercafé. Es ist ein bekannter Treffpunkt in der Nähe des Inns, das
Altstadthaus gehört dem Kabarettisten Ottfried Fischer, der selbst mit
seiner Ehefrau dort lebt. „Wie läuft es an der Uni?“, fragt Steiger-Hölle…
Chaar, 26 Jahre alt, sagt: „Ich habe schon 80 Credit Points.“ 180 braucht
er insgesamt, dann erhält er den Bachelor im Fach „Medien und
Kommunikation“. Omara Chaar stammt aus dem syrischen Aleppo, auch er hatte
vor fünf Jahren die Dreiflüssestadt erreicht. Die Passauerin Sonja
Steiger-Höller kümmerte sich damals als Flüchtlingshelferin um ihn:
Asylantrag stellen, sich auf das Verfahren vorbereiten. Kleidung besorgen,
denn der Syrer war nur mit zwei Plastiktüten angekommen. Und Deutsch
lernen. Steiger-Höller und ihre Familie luden Chaar damals zum Essen ein,
nahmen ihn mit zum Besuch bei den Eltern. Sie sind Freunde geworden.
## Vom mittellosen Flüchtling zum erfolgreichen Studenten
Omara Chaar spricht schnell und auf Deutsch über die verschiedenen
Sprachkurse, bis er das Level C1 erreicht hatte und damit den Zugang zur
Universität. Er redet von seinem Marketingpraktikum, von den
Lehrveranstaltungen zur empirischen Sozialforschung, von strategischer
Kommunikation und PR. Wenn er den Lehrinhalten einmal nicht ganz folgen
kann, dann gehe er zum Professor und sage ihm: „Ich verstehe nicht, um was
es geht.“ Omara Chaar regt Tutorien an, in denen Themen vertieft werden.
Sehr geholfen habe ihm das „Refugee Programme“ der Universität, dessen
Mitarbeiterin sich genau solche aufgeweckten Studierenden wünschen.
Die erste Begegnung mit Leen Shaker, Omara Chaar und dem Reporter fand vor
genau fünf Jahren statt, im September 2015 am [1][Passauer Hauptbahnhof].
Der damals 21-jährige Omara Chaar stand an den mit rot-weißem Plastikband
abgegrenzten Aufgängen, ein Megafon in der Hand. Die Bundespolizei hatte
ihn wegen seiner Arabischkenntnisse engagiert, er selbst war da gerade
einmal seit zwei Monaten in Deutschland. Stoßartig kamen die Flüchtlinge
aus den Waggons der Züge aus Österreich. Chaar rief immer wieder laut: „Das
ist Deutschland, ihr seid in Sicherheit. Ihr braucht keine Angst mehr zu
haben, ihr seid hier angekommen. Bitte geht jetzt weiter.“
In seiner Heimat hatte Omara Chaar Jura studiert, war selbst über die
Strecke gekommen, auf der nun Hunderttausende folgten: von der Türkei mit
dem Schlauchboot nach Griechenland und weiter auf der [2][Balkan-Route]. Er
ging zu Fuß, musste in einigen Ländern Grenzsoldaten bestechen, wurde
mehrfach in Haft gehalten. Ein Mal wäre er fast ertrunken, in Ungarn hatte
er sich einige Tage im Wald versteckt.
Passau an der Grenze zu Österreich und Tschechien stand damals im
Blickpunkt der Republik, Europas und, ja, der Welt. Die Flüchtlinge kamen
nicht mehr wie kurz zuvor am Münchner Hauptbahnhof an. Sie wurden von
Österreich umgeleitet, denn die bayerische Landeshauptstadt war vollkommen
überlastet. Nun gab es auch in Passau an Spitzentagen 10.000 neue
Geflüchtete.
Als Leen Shaker in der 50.000-Einwohner-Stadt deutschen Boden betrat, war
sie 28 Jahre alt. In Damaskus hatte sie als Zahnärztin promoviert und für
kurze Zeit gearbeitet. Dann beschloss sie, vor dem Krieg zu fliehen. Das
Regime von Diktator Assad wütete, die Terrororganisation „Islamischer
Staat“ war wegen ihrer Gräueltaten gefürchtet, weitere Milizen involviert.
Ursprünglich hatte Shaker gehofft, im Libanon Arbeit zu finden, nicht so
weit weg von der alleinstehenden Mutter und der jüngeren Schwester. Doch
das war nicht möglich – also nach Deutschland, alleine, dort wo schon ein
Bruder und zwei Schwestern lebten. Damals war die Zukunft vollkommen offen,
das weitere Leben unsicher.
## Gehversuche ein Jahr nach der Flucht
Ein Jahr später, Ende August 2016, saßen Omara Chaar, Leen Shaker und Sonja
Steiger-Höller auch im Theatercafé, das Wetter war schön. Die Syrer
radebrechten halb auf Englisch und halb auf Deutsch. Chaar musste erkennen,
dass er mit syrischen Jura-Kenntnissen in Deutschland nichts anfangen
konnte. Sein Ziel war es nun, an der Universität zu studieren, irgendetwas
in Richtung Medien und Journalismus. „Er ist immer so optimistisch“, sagte
Sonja Steiger-Höller damals. Chaar erzählte aber auch, dass seine Eltern in
[3][Aleppo] in verlassenen alten Autos leben mussten, weil die Wohnung
zerstört war. Und er sagte: „In Syrien habe ich fast nur noch tote
Freunde.“
Leen Shaker wiederum machte zu diesem Zeitpunkt Praktika bei Zahnärzten und
arbeitete als Arzthelferin. Sie hoffte, dass ihre Ausbildung irgendwie und
irgendwann einmal anerkannt würde. Diese Hoffnung war zu diesem Zeitpunkt
sehr vage.
In fünf Jahren von Damaskus als Ärztin in die Nymphenburger Praxis – geht
es noch besser? Dr. Leen Shaker spricht ein grammatikalisch vollkommen
korrektes Deutsch, einen kleinen Akzent hört man ab und zu. Der Bruder
studiert in Heidelberg Physik, eine Schwester Soziale Arbeit in Schwäbisch
Gmünd. „Ich war sehr froh nach der Flucht“, erinnert sie sich. „Und jetzt
kann ich hier weitermachen.“
Also alles bestens, ein Idealfall gelungener Integration? Man merkt, dass
die zierliche Frau mit den schwarzen Haaren ein empfindsamer Mensch ist.
„Meine Mutter und meine Geschwister sind mein Leben“, sagt sie. Doch die
Mutter, 53 Jahre alt, muss in Damaskus ausharren. „Ich habe sie seit fünf
Jahren nicht gesehen“, sagt Shaker, in ihren Augen steigen Tränen auf. Alle
Versuche, sie zu einem Besuch nach Deutschland zu holen, seien bisher
gescheitert. Alle Anträge abgelehnt – obwohl sie für sie bürgen würde, die
Flüge bezahlen, sie in Deutschland versorgen. Der Grund, so vermutet sie,
liegt darin, dass die die Behörden annehmen, dass die Mutter dann auf Dauer
bleiben wollen würde.
Leen Shaker fühlt sich angekommen in Deutschland und doch zerrissen. „Ich
habe keine Heimat“, sagt sie. „Ich werde das Land, in dem ich aufgewachsen
bin, nie wiedersehen. Es gibt viel Schmerz in meinem Herzen.“ Nach ihrer
letzten Kieferorthopädie-Prüfung, wenn sie etwas mehr Zeit hat, möchte sie
ehrenamtlich etwas für andere Geflohene tun, in einem Helferkreis
mitarbeiten. Denn: „Viele Flüchtlinge sind innerlich zerstört.“ Dann ist
die Mittagspause vorbei, Patienten sitzen im Wartezimmer.
Omara Chaar lebte bis März 2017 im Flüchtlingsheim, seitdem hat er in
Passau ein kleines, stadtnahes Apartment gemietet. Er erhält Bafög und
kellnert nebenher im Restaurant des Passauer Scharfrichterhauses – einer
Kultstätte bayerischer Kleinkunst und Kabaretts, wo etwa Bruno Jonas und
Siggi Zimmerschied bekannt geworden sind. Chaar weiß, welchen
österreichischen Rot- und welchen Weißwein er empfehlen kann. Er hat die
Erfahrung gemacht: „Je mehr Bayerisch du redest, umso mehr Trinkgeld
bekommst du.“ Zwischendurch lässt er immer wieder Sätze einfließen wie
„Keine Panik auf der Titanic“ oder „Alles wird gut“ – und lacht dabei…
meint: „Ich will hier weiter an die Uni, ich will nicht dreieinhalb Jahre
Jura in Aleppo einfach hinschmeißen.“
Doch auch für Omara Chaar bleibt Syrien ein wichtiger Teil des Lebens.
Seine Eltern in Aleppo hätten sich unlängst heftig gestritten, ob sie einem
Gast eine Tasse Kaffee anbieten sollten oder nicht, berichtet er. Der
Grund: Kaffee ist mittlerweile fast unbezahlbar. Chaar und sein Bruder, der
nach Krefeld kam und dort jetzt als Buchhalter arbeitet, schicken weiterhin
Geld nach Aleppo. Vor Kurzem ist dort der Großvater gestorben, 85 Jahre
alt, an Corona. Chaar macht Pläne, wie man die Eltern aus Syrien
herausholen könnte. Er denkt an eine Übersiedlung in die Türkei, wo sie
sich wiedersehen könnten. Von wo vielleicht auch ein Weg nach Deutschland
sichtbar wäre. „Ich möchte alles dafür tun“, sagt Omara Chaar, „dass m…
Vater und meine Mutter aus Aleppo herauskommen. Sie sollen in ihrem Leben
noch etwas anderes sehen als Bomben und Krieg.“
2 Sep 2020
## LINKS
[1] /Fluechtlinge-nahe-Passau/!5226634/
[2] /Fluechtlinge-auf-der-Westbalkanroute/!5248200/
[3] /Krieg-in-Syrien/!5362329/
## AUTOREN
Patrick Guyton
## TAGS
Syrische Flüchtlinge
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Geflüchtete
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Schwerpunkt Flucht
Flüchtlinge
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