| # taz.de -- Roman von Michelle Winters: Ja, es gibt eine Leiche | |
| > In der kanadischen Provinz verschwindet ein Mann. In Michelle Winters’ | |
| > Roman „Ich bin ein Laster“ kommt so die Vergangenheit ans Licht. | |
| Bild: In den endlosen Weiten Kanadas können schon mal Menschen verschwinden | |
| Warum sind Autoverkäufer in den erzählenden Künsten eigentlich oft so | |
| traurige, um nicht zu sagen tragische Gestalten? Man kann, jedenfalls wenn | |
| man einigermaßen kinosozialisiert ist, kaum anders, als den Autoverkäufer | |
| Martin Bureau (ein französischer Familienname, der „Schreibtisch“ bedeutet, | |
| und für den der anglofone Martin sich etwas schämt) in Michelle Winters’ | |
| erstem Roman „Ich bin ein Laster“ gedanklich kurzzuschließen mit dem | |
| glücklosen William H. Macy aus [1][„Fargo“] (nicht der Serie, sondern dem | |
| Film der Brüder Coen von anno 1996). | |
| Auch die klimatischen Bedingungen sind ähnlich wie in Fargo, denn der Roman | |
| spielt in Kanada, und es gibt zeitweise enorm viel Schnee. Der Rest ist | |
| anders. Als Handlungsort fungiert ein Kaff in der englischsprachigen | |
| kanadischen Provinz. Das frankofone Ehepaar Agathe und Réjean hat es in | |
| diese Fremde verschlagen, weil es für einen Holzfäller wie Réjean hier mehr | |
| Arbeit gibt. In inniger Zweisamkeit leben die beiden in einem abgelegenen | |
| Cottage und halten sich möglichst fern von allem Englischsprachigen. | |
| Agathe allerdings hegt eine klammheimliche Faszination für amerikanische | |
| Rockmusik, während Réjean nur frankokanadischen Folk als Musik gelten | |
| lässt. Andererseits fährt er ausschließlich und leidenschaftlich Chevrolet | |
| und kauft sich jedes Jahr das neueste Truckmodell. Durch diese regelmäßige | |
| Aktivität entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihm und | |
| dem Autoverkäufer Martin, was in diesem wiederum eine zunächst eher | |
| widerstrebende Zuneigung zur vormals verschmähten französischen Sprache | |
| weckt. | |
| ## Réjean verschwindet | |
| So idyllisch und langweilig könnte es ewig weitergehen, wenn nicht eines | |
| Tages Réjean einfach verschwinden würde. Die allein gebliebene Agathe | |
| verzweifelt und leidet, muss aber nun für ihren Lebensunterhalt selbst | |
| sorgen und besorgt sich einen Job in einem Secondhand-Laden für | |
| Elektrogeräte. Was im Folgenden passiert, ist eng verknüpft mit dem, was | |
| ohne Agathes Wissen zuvor im Leben von Réjean geschah und was nun im | |
| Rückblick berichtet wird. Nacherzählen lässt es sich hier nicht; zu groß | |
| die Spoilergefahr. Daher nur so viel: | |
| 1. Bestimmt hat auch Michelle Winters „Fargo“ gesehen. | |
| 2. Ja, es gibt eine Leiche und | |
| 3. auch einen Revolver und | |
| 4. eine Mafia (nämlich eine französische Wein- und Käse-Mafia), und | |
| 5. unerwartete Dinge geschehen. | |
| ## Das Spiel der Gegensätze | |
| Im tieferen Grunde geht es in „I Am a Truck“ aber vor allem um | |
| Antagonismen. Zwischen Englisch und Französisch (das Spiel mit den Sprachen | |
| kann in der deutschen Übersetzung, die insgesamt sehr schön zu lesen ist, | |
| nur ansatzweise eingefangen werden), zwischen Ford und Chevrolet, Wein und | |
| Whisky, Frau und Mann, zwischen Rock- und Folkmusik. | |
| Winters spielt hintergründig mit vermeintlichen Gegensätzen und treibt sie | |
| lustvoll ins Extrem. Dass ihr Roman eigentlich ein Gedankenexperiment ist, | |
| merkt man während der unterhaltsamen Lektüre rein gar nicht. Alle Figuren, | |
| auch die sinistren, gewinnt man beim Lesen regelrecht lieb, denn sogar das | |
| Verbrechen wirkt in diesem Roman auf seltsame Art menschlich. Alle, auch | |
| wir, erfahren irgendwann, was mit Réjean passiert ist. | |
| 18 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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