| # taz.de -- Kübra Gümüşay redet mit Peter Sloterdijk: Literarischer Fremden… | |
| > Über die sprachliche Bedingtheit unseres Seins: Auf der LIT:potsdam | |
| > trafen sich Kübra Gümüşay und Peter Sloterdijk zu Lesung und Gespräch. | |
| Bild: Auf der Bühne: Kübra Gümüsay (M.), Peter Sloterdijk und Moderatorin D… | |
| Man hatte sicher lange bang auf gutes Wetter gehofft und war dann | |
| vielleicht doch überrascht, dass es gar so gut wurde. Am meisten hatte man | |
| in Potsdam allerdings darum bangen müssen, ob die diesjährige Ausgabe des | |
| [1][Literaturfestivals LIT:potsdam] überhaupt würde stattfinden können. Das | |
| tut es nun seit Dienstag tatsächlich, mit zweimonatiger Verspätung, dank | |
| zusätzlicher Sponsoren – und überwiegend Open Air mit reduziertem | |
| Ticketangebot. | |
| Dabei hätten durchaus noch ein paar mehr als die gut hundert Menschen in | |
| der heißen Vorabendsonne im ausverkauften Schirrhof an der Schiffbauergasse | |
| mit genügend Abstand Platz gehabt (nur am Eingang und auf den Toiletten | |
| wäre es vermutlich zu eng geworden), als am Donnerstag die Autor:innen | |
| Kübra Gümüşay und [2][Peter Sloterdijk] das lange Wochenende in der | |
| herrlichen Berliner Vorstadt nahe der Glienicker Brücke einläuteten. | |
| Die Paarung war durchaus reizvoll – die bekennende, junge Muslimin und | |
| Feministin und der von einigen als lüsterner Antifeminist geschmähte alte | |
| weiße Berufsprovokateur –, aber zugleich auch etwas beliebig: Beide | |
| beschäftigen sich in ihren Büchern irgendwie mit Sprache. Der | |
| Veranstaltungstitel „Über die Wahrheit“ war erkennbar zu hoch gegriffen. | |
| ## Überwindung der fremddefinierten Gruppenidentität | |
| Gümüşay las zunächst einige Abschnitte aus ihrem im Januar erschienenen | |
| Buch [3][„Sprache und Sein“,] das sich mit der sprachlichen Bedingtheit | |
| unserer Weltwahrnehmung und unseres politischen Handelns beschäftigt. Es | |
| geht ihr vor allem darum, die Grenzen einzelner Sprachen und Begriffe zu | |
| erweitern oder einzureißen und die Beschränkung von Individuen auf eine | |
| einzige Gruppenidentität zu überwinden. „Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, | |
| bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei | |
| Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir | |
| die Verkehrsregeln.“ | |
| Entsprechend sei die Rede vom „alten weißen Mann“ als bewusste | |
| Gegenstrategie zu verstehen. Keine in irgendeiner Weise erschöpfende | |
| Beschreibung jedes einzelnen alten weißen Mannes, sondern eine bewusste | |
| Provokation, die relativ privilegierte Individuen mit der Erfahrung | |
| vertraut machen soll, auch einmal selbst einer ausschließlich über äußere | |
| Merkmale fremddefinierten Gruppenidentität zugeordnet zu werden. | |
| Ein schönes Bild gelang Gümüşay mit einer Umdeutung der angelsächsischen | |
| Redewendung vom „Elefanten im Raum“. In ihrer Version ist dieser Elefant | |
| kein für alle offensichtliches Problem, das nur niemand anzusprechen wagt, | |
| sondern der Raum ist dunkel, und durch bloßes Tasten am je eigenen | |
| partikulären Standort gibt jede:r Sprecher:in eine komplett andere | |
| Beschreibung des Problems ab als alle anderen. Der Clou: „Alle haben | |
| recht.“ Die Aufgabe eines progressiven Umgangs mit Sprache liegt für | |
| Gümüşay darin, Kategorien zu finden, in denen möglichst viele verschiedene | |
| Perspektiven Platz haben. | |
| ## Lautes Dazwischenrufen | |
| Einem alten weißen Mann im Publikum war das anscheinend zu anstrengend. Er | |
| plädierte durch lautes Dazwischenrufen nach nicht einmal einer halben | |
| Stunde dafür, doch endlich auch Sloterdijk zu Wort kommen zu lassen. Für | |
| den war freilich der zweite Veranstaltungsblock reserviert. | |
| Anders als Gümüşay konnte Sloterdijk nicht aus einem fertigen Buch | |
| vortragen, denn „Den Himmel zum Sprechen bringen“ soll erst am 26. Oktober | |
| erscheinen. Stattdessen tat Sloterdijk das, was er ohnehin am liebsten tut: | |
| Er übernahm die Rolle des alten, weißen Märchenonkels – was man ihm als | |
| junge, türkischstämmige Frau wohl nur deswegen nachsehen kann, weil er es | |
| nun mal überwiegend auf brillante Weise tut. | |
| Nach diversen Exkursen, etwa über den apokryphen Ursprung des Wortes | |
| „Theologie“ aus der antiken Theatermaschinerie (nicht als „Sprechen über | |
| Gott“, sondern als „Sprechen des Gottes“) oder die deutsche Meisterschaft | |
| im Hirschrufen, gab es einen ersten unangenehmen Moment, als Sloterdijk mit | |
| Bezug auf Gümüşays Lesung von der „größten Hervorbringung der menschlich… | |
| Evolution“ in der „Entstehung der weiblichen Stimme“ sprach. | |
| ## Komplimente, die die Welt nicht braucht | |
| Er beließ es aber nicht dabei, sondern lobte dazu ihren „wunderschönen | |
| Singsang“. In dieser Konstellation wohl eher ein Fall für die Kategorie | |
| „Komplimente, die die Welt nicht braucht“. Fehlte nur noch, dass er auch | |
| etwas über ihre mutmaßlich nicht Reh-, sondern Hirschaugen hinzufügte. | |
| Allerdings setzte sich Sloterdijk auch bemerkenswert ausführlich inhaltlich | |
| mit seiner Vorrednerin auseinander, etwa in seiner Konzeption eines | |
| „verbalen Fremdenverkehrs“ in der Entstehung der modernen | |
| (west)europäischen Sprachen im Austausch mit dem Lateinischen und | |
| miteinander, was stets zu „Epidemien des Mehrsagenkönnens“ geführt habe. | |
| Sloterdijks intellektuelles Sperrfeuer, dessen Anekdoten- und | |
| Pointenreichtum hier nicht annähernd wiedergegeben werden kann, erreichte | |
| schließlich einen Höhepunkt, als er gegen Ende wieder auf die Religion zu | |
| sprechen kam. Diese sei im Grunde erst heute wirklich frei, da sie | |
| keinerlei gesellschaftliche Aufgabe mehr zu erfüllen habe. Die Nachfrage | |
| der Moderatorin Dilek Üşük, worin denn für Sloterdijk die Funktion dieser | |
| Freiheit bestehe, gab diesem schließlich noch die Möglichkeit, die für uns | |
| heute gewiss schwer zu fassende Radikalität der Freiheit in der Paradoxie | |
| einer „Funktion der Funktionslosigkeit“ zu veranschaulichen. „In der | |
| Eroberung der Nutzlosigkeit ist man dem Himmel näher.“ Nur fehle es dort | |
| zumeist an Sprache. | |
| ## Freiheit in der Poesie | |
| Die Sprache selbst aber, könnte man hinzufügen, findet eine vergleichbare | |
| Freiheit in der Literatur und der Poesie. Darum ist es umso wichtiger, dass | |
| ein Festival wie das LIT:potsdam trotz allem stattfinden kann. Dieses Jahr | |
| wird es zum ersten Mal auch einen Familientag geben. | |
| Neben Lesungen von weiteren bekannten Naben wie Matthias Brandt, Durs | |
| Grünbein oder Ingo Schulze liegt den Veranstaltern aber auch das Programm | |
| „Weiter schreiben“ besonders am Herzen, in dem deutsche mit geflüchteten | |
| Autor:innen zusammenkommen, um – frei nach Sloterdijk – einen | |
| „literarischen Fremdenverkehr“ zu etablieren. | |
| 8 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.litpotsdam.de/ | |
| [2] /Babylon-in-der-Berliner-Staatsoper/!5576410 | |
| [3] /Sprache-und-Sein-von-Kuebra-Guemueay/!5657101 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Wohlfarth | |
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