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# taz.de -- Die Wahrheit: Massenauflauf im Nationalkostüm
> Von Fridays for Future bis Silvester: die ultimative Vorschau auf die
> bewegte Bewegungssaison im zweiten Halbjahr 2020.
Vor einer Woche demonstrierten knapp zwanzigtausend Menschen in Berlin
gegen die Corona-Auflagen der Bundesregierung. Dominiert wurde die
Versammlung von einer wüsten Mischung aus Antisemiten,
Verschwörungstheoretikern und knallharten Nazis. Angestachelt von den
Erfolgen in Berlin und dem relativen Mangel öffentlichkeitswirksamer
Massenveranstaltungen setzen die Organisatoren nun auf die schnelle
Übernahme weiterer Demokonzepte.
## Fridays for Future
Wenig könnte den Anliegen der Verschwörungstheoretiker ferner liegen als
die Klimademos, die von Schülerinnen und Schülern organisiert werden.
Gleichzeitig war die Gelegenheit nie günstiger, die allseits bekannte
Protestreihe zu kapern! In eilig zusammengeschnippelten Schuluniformen
reisen schwäbische Nazis zu sogenannten Vergangenheits-Freitagen in
deutsche Großstädte, um dort gegen das Klima zu demonstrieren – „gegen das
Klima der Angst! Das Merkel gegen alle verbreitet, die anderer Meinung
sind.“ Um ihre Leugnung der Klimakrise wie auch der Covidpandemie zu
akzentuieren, binden die Demonstrierenden Mundschutzmasken an CO2-gefüllte
Luftballons – um sie dann mit Luftgewehren vom Himmel zu holen. „Das wird
Bill Gates eine Lehre sein, auf seiner Mondbasis!“
Reaktion der Politik: zögerlich
## Christopher Street Day
Pride Month ist zwar schon vorbei – vielerorts wurden die entsprechenden
Großveranstaltungen für geschlechtliche Vielfalt aber abgesagt. Das hindert
jedoch nicht daran, auch diese Demonstrationen nachträglich zu kapern – und
als „Christstraßenfest“ neu auszulegen. „Wir Coronaskeptiker sind die
Aidskranken des neuen Jahrtausends“, verkündet etwa der Wuppertaler
Veranstalter Bernhard Z. in seiner Telegram-Gruppe „Friedens-Berny gegen
Mobilfunk, Nato-Gene und Dosenmais“. Wie er glaubwürdig die Rechte von
Homosexuellen vertreten wolle, erklärt er seinen skeptischen Followern wie
folgt: „Wenn die uns Stoffe ins Trinkwasser mischen, die uns schwul machen
sollen, ist das genau mein Thema! Nichts gegen Homosexuelle, aber dagegen
müssen wir uns wehren.“
Reaktion der Politik: abwartend
## Loveparade
Das beliebte Körperspektakel aus den neunziger Jahren ist wieder zurück –
nur wollen statt attraktiven Techno-Jüngerinnen und -Jüngern vor allem
räudige Greise und Greisinnen aus Süddeutschland anreisen, um sich in
entsetzlichen selbst gebastelten Glitzerkostümen gegenseitig mit tödlichen
Krankheiten anzustecken. Unter dem Motto „One nation, one health“ sollen so
lange sämtliche Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, bis alle
Teilnehmenden gesundheitlich auf dem selben Stand sind. „Und der
Volkskörper als ganzes die Epidemie dann einfach abschüttelt“, so ein
Sprecher sichtlich euphorisch.
Reaktion der Politik: Der Berliner Senat möchte zunächst abwarten, ob durch
den Unfug mehr Leute sterben als damals bei dem Massenauflauf in Duisburg.
Wenn nicht, möchte man die Demo mit Samthandschuhen anfassen: „Berlin freut
sich immer über Gäste aus Schwaben! Und ihr Geld, haha!“
Reaktion der Politik: Tee trinkend
## Frankfurter Buchmesse
Frankfurts Oberbürgermeister Feldmann ist sich sicher: „Wir stemmen die
Buchmesse!“ Das größte Lesefest der Welt soll trotz aller Bedenken
stattfinden – wenn die Gäste wegbleiben, füllt man die Hallen notfalls mit
Unterstützung reiselustiger Verschwörungstheoretiker. Hier kann man an die
guten Erfahrungen von der Messe 2017 anschließen, wo rechtsradikale Verlage
nach Belieben schalten und walten konnten. „Solange die Leute engagierte
Leser sind und unsere Hotels schön vollbuchen: herzlich willkommen! Mich
bitte nicht anrufen, ich bin zu dieser Zeit im Urlaub“, so Feldmann. Mit
einem guten Hygienekonzept soll es Frankfurt gelingen, Nazis und
Coronaleugner gleichmäßig über die gesamte Stadt zu verteilen: „Keine
Ahnung warum, aber hört sich doch erst mal gut an, oder?“ Sollte Frankfurt
wider Erwarten Ausgangspunkt einer Infektionswelle werden, könnten
Erkrankte unbürokratisch ins angrenzende Offenbach geschafft werden.
Reaktion der Politik: unentschlossen
## Oktoberfest
„O’ghustet is’!“ Noch ist das Münchner Oktoberfest 2020 die einzige
Massenveranstaltung, die hochoffiziell abgesagt ist. Geht es nach dem
Willen der Coronademonstranten, wird zum selben Zeitpunkt jedoch ein
alternatives Oktoberfest in der Innenstadt stattfinden, die „Nationale
Oktober-Revolution“. „Merkel will das O’zapfen verbieten“, behauptet An…
G. auf Facebook, „sie steckt mit der Weinindustrie unter einer Decke!“
Andere schlagen schärfere Töne an: „Die Regierung will das Reinheitsgebot
aufweichen – das arische Reinheitsgebot!“ Mit Nazis hat man laut
Selbstauskunft natürlich nichts zu tun. Statt dem Bieranstich wollen sich
alle Beteiligten – eins, zwei, drei! – gegenseitig in den Hals husten, um
ein Zeichen für oder gegen irgendwas zu setzen. „Was genau, wird aber noch
geheimgehalten. Vor Merkel!“
Reaktion der Politik: zimperlich
## Weihnachten
„Weihnachten ist ursprünglich ein Fest, das aus dem Orient zu uns gebracht
wurde“, kritisiert die Demogruppe „Heilnachten“ auf Facebook. „Das
orientalisch-zionistische Konsumfest muss gründlich überprüft werden!
Sollen wir alle mit Botschaften von Frieden und Völkerverständigung
gehirngewaschen werden?“ Der Vorschlag einer Umbenennung in „Winterfest“
führte zu teils heftigen internen Auseinandersetzungen. Als Kompromiss
einigt man sich auf die Forderung: „Dieses Jahr jeder nur ein Geschenk!“ Um
gegen die Hygienebestimmungen der Regierung zu protestieren, bleiben dabei
sämtliche Geschenke unverpackt, „für maximalen Herdenschutz“!
Reaktion der Politik: hebt nicht ab
## Silvester
Das Motto „Hitler ahoi! Für ein friedliches Nazi-Deutschland und
Meinungsfreiheit“ führt am Silvesterabend über hunderttausend Menschen in
Berlin zusammen. Sie fordern die „Protokolle der Weisen von Zion“ als
Schullektüre, national befreite Zonen, eine Annexion von Elsass-Lothringen
und die Zwangsansteckung der Wahlberechtigten mit allen bekannten
Coronastämmen. Scharfsinnige Journalisten machen sich über die
Demonstrierenden lustig: „Das sind Verschwörungswichtel mit Aluhüten“,
heißt es treffend in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau.
Die Politik erwägt in ersten Reaktionen, die Sachlage bei Bedarf zu prüfen,
gibt sich aber im Grundsatz milde: „Covidioten sollte man keine
Aufmerksamkeit schenken!“
8 Aug 2020
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
Verschwörungsmythen und Corona
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Schwerpunkt Coronavirus
Kapitalismuskritik
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