# taz.de -- Werber über ökosoziale Marktwirtschaft: „Ich möchte ich selbst… | |
> Raphael Brinkert ist preisgekrönter Werber und setzt mittlerweile auf | |
> soziale Projekte. Ein Gespräch über Konsum, Fußball und seinen Sohn. | |
Bild: Hat als Schüler in der Bäckerei der Familie ausgeholfen: Raphael Brinke… | |
taz: Herr Brinkert, wie wirbt man für Werte, die weniger Rendite | |
versprechen als Produkte? | |
Raphael Brinkert: Indem man sich bewusst wird, dass eine wertebasierte | |
Kommunikation langfristig gesehen die viel größere Rendite verspricht: Die | |
Förderung eines besseren und nachhaltigeren Konsums. Ich glaube an die | |
ökosoziale Marktwirtschaft, den Einklang von Ökonomie, Ökologie unter | |
sozialen Voraussetzungen. | |
Das wäre die volkswirtschaftliche Antwort. Für den Chef einer | |
Kommunikationsagentur stellt sich aber noch die betriebswirtschaftliche | |
Frage nach kurzfristigen Erträgen, um Personal und Miete zu bezahlen. | |
Die sind in der Tat herausfordernder. Aber weil wir keinem Network, | |
Aktionär oder Investor, sondern uns selbst rechenschaftspflichtig sind, | |
müssen wir nur den eigenen Profiterwartungen gerecht werden. Wir | |
verzichten gern auf Umsätze und Renditen, die wir mit Tabak- und | |
Rüstungskonzernen oder auch Unternehmen wie Nestlé verdienen könnten. | |
Mit Ihrer Erfahrung und Kompetenz könnten Sie also bedeutend mehr | |
verdienen? | |
Bei meiner letzten Station hatte ich zuletzt mehr als das Doppelte | |
verdient. Mit unserer jetzigen Agentur verfolgen wir eine andere Auffassung | |
und Zielsetzung. Beides hat seine Berechtigung. Es ist für ein Land | |
existentiell, dass Unternehmen Profite machen und Inhaber für die | |
Risikoübernahme entlohnt werden. Ob man bereit ist, zugunsten von Werten | |
auf Zusatzeinnahmen zu verzichten oder sich fragt, an wen der Gewinn in | |
welchem Umfang verteilt wird, darin unterscheiden sich die Konzepte. Per se | |
ist die Arbeit in vielen Teilen vergleichbar. | |
Sie haben bei Jung von Matt also dieselbe Arbeit gemacht wie beim Social | |
Campaigning in der eigenen Agentur? | |
Absolut, und es hat großen Spaß gemacht, für große Marken arbeiten zu | |
dürfen. Sowohl bei Scholz & Friends als auch bei Jung von Matt habe ich | |
vieles gelernt, was auch jetzt zur Anwendung kommt. Etwa das Gespür für | |
Kreation und für strategische Markenkommunikation über alle Kanäle hinweg. | |
Als Unternehmerkind war es da ohnehin schon früh ein Gedanke, mich | |
selbstständig zu machen. Für den heutigen Zeitpunkt war allerdings zwei | |
Ereignisse prägend. | |
Welche? | |
Die Geburt von Robin, der mit dem Down-Syndrom zur Welt kam. Und unser | |
Engagement in der Flüchtlingskrise mit der eigenfinanzierten Kampagne | |
„Jeder hat das Recht auf Menschenrecht“. Aber insbesondere mein Sohn lehrt | |
mich bis heute, dem Alltag mehr Wertschätzung entgegenzubringen und vieles | |
nicht als Selbstverständlichkeit zu sehen. Dass Wertekommunikation Produkte | |
befruchtet statt ausschließt, zeigt da unsere aktuelle Arbeit für einen | |
extrem nachhaltigen Möbelhersteller. | |
Aber wie sind Sie mit diesem Wertekanon überhaupt in die oberflächliche, | |
profitorientierte Werbebranche geraten – haben Sie schon in der Schule | |
Panini-Bilder gehandelt? | |
Getauscht ja, gehandelt nein. Ich komme aus einer Familie mit eigener | |
Bäckerei und Konditorei. Als ich mit 16 gemerkt habe, dass es für | |
Profifußball nicht reicht, wollte ich Richtung Unternehmensberater, | |
Sportjournalist oder Werbung gehen. Kommunikation hat mich schon seit klein | |
auf begeistert. | |
Wenn Sie Kommunikation sagen, klingt das zwar sozial, meint aber am Ende | |
Marketing, also Verkaufen. Warum wurde es der kommerzielle Strang? | |
Ich möchte Menschen mit Kommunikation dafür begeistern, sich für die | |
richtige Sache, das richtige Produkt, die richtige Person zu entscheiden. | |
Das klang grad wie Marketing … | |
Sie haben recht, kann man so nennen, aber Verkaufen reicht mir nicht. Ich | |
möchte mit unserer Markenkommunikation für Vereine, Verbände, Unternehmen | |
und Personen auch überraschen und unterhalten. Mein Schwerpunkt lag schon | |
vor meiner Selbstständigkeit eher auf Institutionen als | |
Konsumgüterherstellern. | |
Sind Sie auch abseits der Arbeit jemand, der andere begeistert? | |
Wenn ich von etwas überzeugt bin und daran glaube, absolut. | |
Also waren Sie auch Schulsprecher? | |
Dafür fand ich Schule nicht interessant genug, da saß ich eher in den | |
hinteren Reihen und öfters auch vor der Tür. Außerdem musste ich früh | |
Verantwortung übernehmen, habe oft in der Bäckerei ausgeholfen und deshalb | |
ein paarmal mehr als üblich im Unterricht gefehlt. | |
Sind Sie denn ein Strippenzieher oder positiver ausgedrückt: Netzwerker? | |
Ein Stück weit schon, aber weit davon entfernt, Lobbyist zu sein, denn | |
dafür müsste ich in andere Rollen schlüpfen. Das wollte ich nie. Ich möchte | |
möglichst viele Stunden ich selbst sein und machen, was mir Freude | |
bereitet. Wenn ich damit Geld verdienen kann: toll! Schon in der D-Jugend | |
meines Heimatvereins TuS Haltern am See habe ich mit Teamkollegen eine | |
Mannschaftszeitung geschrieben, kopiert, getackert; Sport, Kommunikation, | |
Gesellschaft lagen bei mir also schon früh nah beieinander. | |
Und wo steht der TuS Haltern heute? | |
Zuletzt Regionalliga West. Wir haben aber freiwillig zurückgezogen und | |
setzen in der Post-Corona-Zeit eine Klasse tiefer auf Spieler aus dem | |
Nachwuchs und der eigenen Stadt. | |
„Wir“ klingt nach alter Verbundenheit … | |
Ich bin derzeit noch Marketingleiter und Strategiechef, allerdings mehr als | |
Hobby nebenbei. | |
Und sind Fan von? | |
Schalke 04. Ein zu komplexes Thema, um es in einem Satz zu beantworten. | |
Dann in zwei Sätzen: Warum haben Sie Ende 2018 die erste eigene Agentur | |
ausgerechnet am Tag der deutschen Einheit gegründet? | |
Weil wir damit aus Kostengründen den Agenturgeburtstag mit der | |
Weihnachtsfeier kombinieren können und im Oktober noch überall einen Tisch | |
finden. Scherz beiseite: Die Wiedervereinigung ist das herausragende | |
Ergebnis des positivsten und erfolgreichsten bürgerlichen Engagements in | |
unserem Land. Es ist unser größtes Vorbild. | |
Der Marketingexperte sieht also auch in den Leipziger Montagsdemos vor | |
allem Kommunikation? | |
Erst Mund-zu-Mund-Propaganda und Medialisierung machten aus Demonstrationen | |
eine Bewegung, die in Mauerfall und Wiedervereinigung mündete. Unsere | |
zentrale Büronummer lautet dementsprechend auch nicht 0815, sondern | |
0170.1990103, und unsere erste Arbeit für eine Versicherung handelte von | |
Weltoffenheit. Zum gesellschaftlichen Schwerpunkt kam erst jetzt, mit der | |
vollständigen Trennung von Jung von Matt, auch wieder das Thema Sport. | |
Endlich. | |
War er bei Ihrem Einstieg vor 20 Jahren schon die Marketingmaschine von | |
heute? | |
Nein, da wurde er noch fast ausschließlich aus Vertriebs- und | |
Merchandisingsicht betrachtet, es ging eher um Sponsoren und T-Shirts. Erst | |
durch Digitalisierung und Medialisierung hat sich der Sport abseits der | |
Spielfelder professionalisiert. | |
Als sich der depressive Nationaltorwart Robert Enke, für dessen Stiftung | |
Sie tätig sind, vor elf Jahren das Leben genommen hat, wurde der Profisport | |
plötzlich mit anderen, menschlicheren Augen gesehen. War das auch für Sie | |
ein Wendepunkt? | |
Es gibt Ereignisse, bei denen jeder weiß, wo er währenddessen war – der | |
Mauerfall zum Beispiel oder 9/11. Ich weiß bis heute, wo ich von Robert | |
Enkes Freitod erfahren habe. Das hat mich nachdenklich gemacht. Trotzdem | |
war mir der Druck, unter dem Fußballprofis stehen, schon deshalb auch | |
vorher bewusst, weil ich viele von ihnen persönlich kenne. | |
Und teilweise auch betreuen wie Leon Goretzka oder Arne Friedrich. Woran | |
erkennen Sie, ob es ein Fußballprofi ernst meint mit seinem | |
gesellschaftlichen Engagement oder ob er sich nur sein Image aufpolieren | |
will? | |
Zum einen durch die persönliche Bekanntschaft, zum anderen durch genaue | |
Prüfung, ob das Engagement nachhaltig ist, substanziell. Und das ist sowohl | |
bei der Kinderstiftung von Arne Friedrich als auch beim Corona-Hilfsprojekt | |
von Leon und Joshua Kimmich absolut der Fall. Wie Arne und die beiden sich | |
jeweils reinhängen, beeindruckt mich sehr. Gleiches gilt für Teresa Enke, | |
die seit zehn Jahren immer wieder aufs Thema Depression aufmerksam macht | |
und sich gemeinsam mit DFB, DFL und anderen für die Robert-Enke-Stiftung | |
engagiert. | |
Gibt es für PR-Leute mit Nachhaltigkeitsanspruch eigentlich ein richtiges | |
Leben im falschen? | |
Digitalisierung, die das Beste und Schlechteste im Menschen zum Vorschein | |
bringt, kann aus meiner Sicht dazu beitragen, Missstände öffentlich zu | |
machen. Dazu gehört, die Substanz hinter dem Veränderungswillen der | |
Menschheit zu erkennen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Ich | |
selbst bin schon qua Profession kein Konsumkritiker, aber ich kann mit | |
Kommunikation beitragen, dass unser Konsum sozialer und nachhaltiger wird. | |
Zum Beispiel? | |
Wenn der Konsument etwa sieht, unter welchen Bedingungen Billigfleisch | |
produziert wird, reduziert sich die Nachfrage, davon bin ich überzeugt. Es | |
ist auch hier eine Frage der Kommunikation, notfalls auch einer Penetration | |
der Kommunikation, wie wir es an den Schock-Fotos auf den | |
Zigarettenschachteln sehen. Trotzdem lehrt uns die Geschichte, dass sich | |
die Menschheit am Ende immer selbst bekämpft. | |
Glauben Sie, dass die Coronakrise daran etwas ändert? | |
Ich hoffe schon. Wenn ich allerdings höre, dass der Anteil für den | |
Klimaschutz im Rettungspaket der EU von 40 auf 10 Milliarden gekürzt wurde, | |
bin ich skeptisch. Ich habe voriges Jahr den derzeit einzigen | |
demokratischen Radiosender in Nordsyrien besucht, dem wir bei der | |
Kommunikation helfen wollen. | |
Mit welchem Claim? | |
Arta FM – Wir senden Hoffnung. Genau das macht der Sender täglich, steht | |
aber vor der Herausforderung, dass die Menschen vor Ort teilweise nur eine | |
Stunde Strom am Tag haben. Und wenn man dann einen Kilometer entfernt von | |
der Grenzmauer zur Türkei steht, die auch mit deutschen Steuergeldern | |
finanziert wurde, wird einem bewusst, welch unglaubliches Glück wir bei der | |
Geburtslotterie hatten. | |
Wenn Sie im beruflichen Alltag permanent das Ganze vor Augen haben, also | |
alle gesellschaftlichen Aspekte – macht es Ihre Arbeit da zur politischen? | |
(Überlegt lange) Ja, definitiv. | |
Führt diese Erkenntnis dazu, irgendwann parteipolitisch aktiv zu werden? | |
Es war sehr lehrreich, im Europawahlkampf persönlich für Angela Merkel | |
arbeiten zu dürfen. Wenn ich mir das Arbeitspensum und den Verzicht auf | |
Privatsphäre von Politikern betrachte, bleibe ich aber doch lieber | |
Kleinunternehmer. | |
28 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Freitag | |
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