# taz.de -- Streik der Online-Kuriere: Ausgeliefert in São Paulo | |
> Millionen schuften in Brasilien für Online-Lieferdienste, ohne Rechte und | |
> für wenig Lohn. Jetzt haben sie die Schnauze voll – und streiken | |
> erstmals. | |
Bild: Haben genug von schlechten Arbeitsbedingungen: Lieferant am Mittwoch in S… | |
SãO PAULO taz | Paulo Lima, genannt Galo, der Hahn, ist Essenslieferant in | |
São Paulo, eigentlich nur einer von vielen im immer größer werdenden Heer | |
der Online-Lieferdienste. Aber seit einigen Wochen hat sich sein Leben | |
grundlegend verändert: Er kämpft jetzt gegen die, für die er schuftet, | |
gegen die Tech-Firmen. | |
Lima organisiert Arbeiter*innen, die weder Verträge, noch Chefs, die man | |
ansprechen könnte, noch gewerkschaftliche Vertretung haben. Das mache seine | |
Aufgabe alles andere als leicht, sagt er der taz. „Das Ziel dieser | |
Unternehmen ist es, uns zu spalten und zu vereinzeln“, sagt Paulo Lima. | |
„Das hat jetzt ein Ende.“ Wie viele seiner Kolleg*innen beteiligte er sich | |
am Mittwoch an einem landesweiten Streik – dem ersten seiner Art. | |
Nicht erst seit Corona boomen Online-Lieferdienste, verschiedene Firmen | |
konkurrieren auf dem brasilianischen Markt. Die Fahrer*innen mit den | |
riesigen, quadratischen Rucksäcken sind von den Straßen São Paulos und Rio | |
de Janeiros nicht mehr wegzudenken. In Brasilien sollen bereits 3,8 | |
Millionen Menschen Essen ausliefern, das die Kund*innen gemütlich von | |
Zuhause über Apps auf ihrem Smartphone bestellen. | |
Die Fahrer*innen arbeiten für multinationale Tech-Firmen wie Uber und | |
iFood, sind aber nicht bei ihnen angestellt und haben keine | |
Arbeitsverträge. Im Silicon-Valley-Jargon gelten sie deshalb als | |
„Unternehmer*innen“. Das sieht Lima anders: „Wir sind Arbeiter. Und wir | |
werden ausgebeutet.“ | |
## Kaum Lohn, Stress, Unfälle | |
Der Lohn ist gering, Fahrzeuge müssen die Fahrer*innen anschaffen, | |
Reparaturkosten selbst stemmen. Durch den Zeitstress gibt es viele Unfälle. | |
Die Streikenden fordern nun einen höheren Stundenlohn, eine | |
Unfallversicherung und weniger Druck. | |
In kaum einer anderen Branche werden die Widersprüche des | |
Digital-Kapitalismus so deutlich. Die meisten Lieferanten in Brasilien sind | |
junge, schwarze Männer aus der Vorstädten. So auch Lima, der in einem armen | |
Stadtteil im Osten der Megametropole São Paulo lebt. Sein | |
Klassenbewusstsein, erklärt er stolz, kommt vom Hip-Hop. | |
Ende März war Lima gerade bei der Arbeit, als ein Reifen seines Motorrads | |
platzte. Da das Essen nicht ankam, wurde er von der Plattform vorübergehend | |
gesperrt. Aus Wut trommelte er ein paar Kollegen zusammen, mit dem Ziel | |
sich zu organisieren. Es entstand die Gruppe „Antifaschistische | |
Lieferanten“. Als im Mai zehntausende Brasilianer*innen gegen die Regierung | |
auf die Straße gingen, waren auch Lima und seine Kollegen dabei, reckten | |
Fäuste in die Höhe und demonstrierten zum ersten Mal öffentlich für ihre | |
Rechte. | |
Lima entwickelte sich schnell zum Sprecher der Gruppe, prangerte eloquent | |
und mit dem Slang der Vorstadt die prekären Arbeitsbedingungen an. Videos | |
seiner Reden gingen viral, über Nacht wurde er berühmt. In einem dieser | |
Videos sagt der 31-jährige Lockenkopf: „Es ist Folter, Hunger zu haben und | |
Essen auf dem Rücken zu transportieren.“ | |
Die Firmen weisen die harte Kritik zurück. Die Fahrer*innen wüssten doch | |
genau, wie viel sie verdienten. Die Zahlen der neuen Fahrer*innen sprächen | |
für sich. Tatsächlich sind die Plattformen für viele ungelernte | |
Brasilianer*innen während der Corona-Pandemie ein Segen. | |
Viele nehmen den mickerigen Lohn und Arbeitstage von mehr als 12 Stunden in | |
Kauf. Besser schlechte Arbeit als gar keine, denken viele. Die dramatische | |
Wirtschaftskrise kommt den Tech-Firmen zugute: Die Arbeitslosigkeit steigt | |
rasant, laut des Statistikinstituts IGBE gab es alleine im ersten Quartal | |
2020 1,2 Millionen neue Arbeitslose. Die vielen neuen Lieferant*innen | |
drücken wiederum die Löhne. | |
## Kund*innen boykottieren die Apps | |
Mit dem Streik vom Mittwoch gab es nun ein erstes Aufbäumen. Auch viele | |
Kund*innen unterstützen die Lieferant*innen und boykottierten die Apps. In | |
mehreren Städten kam es zu Protesten auf der Straße, soziale Bewegungen | |
solidarisierten sich, eine linke Partei bot Lima sogar an, ihn als | |
Kandidaten für die im Oktober geplanten Munizipalwahlen aufstellen zu | |
lassen. Doch der lehnte ab. „Ich bin Politiker der Straße, das reicht.“ | |
Dass Essenslieferanten für ihre Arbeitsrechte kämpfen, ist bemerkenswert. | |
Denn die Branche gilt als schwer für Arbeitskämpfe zu mobilisieren. „Die | |
technologische Entwicklung hat das Verständnis von Arbeit verändert“, sagt | |
Flávia Silva, Projektkoordinatorin des Regionalbüros des DGB-Bildungswerkes | |
in São Paulo, der taz. „Viele Lieferanten fühlen sich nicht mehr als | |
Arbeiter, weil sie keine traditionellen Anstellungsverhältnisse haben.“ Und | |
die Gewerkschaften, die formell beschäftigte Industriearbeiter*innen | |
vertreten, täten sich mit dieser neuen Art der Arbeiterklasse immer noch | |
schwer. | |
Neben prekärer Arbeit und Unfällen gibt es für die Lieferant*innen nun | |
einen weiteren Grund zur Beunruhigung: Corona. Kein Land hat in den letzten | |
Tagen [1][so viel Neuinfektionen] zu beklagen wie Brasilien. Mehr als | |
60.000 Menschen sind offiziell an COV-19 gestorben, nur in den USA sind es | |
mehr. Viele Essenslieferant*innen haben sich mit dem Virus infiziert. Auch | |
Galo hat große Angst vor einer Erkrankung, da er mit seiner Familie | |
zusammenlebt. Doch er ist auf das Geld angewiesen. Deshalb wird er auch in | |
den nächsten Tagen wieder mit seinem Motorrad rausfahren und Essen | |
ausliefern. | |
2 Jul 2020 | |
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[1] /Coronakrise-in-Brasilien/!5691049 | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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