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# taz.de -- Sozialforscher über das Biotop Kreuzberg: „Misstrauen gegen alle…
> In „Kreuzberg – das andere Berlin“ versucht der Soziologe Jürgen Enkem…
> die Widerständigkeit und Alternativität des Bezirks zu erklären.
Bild: Protest gehört in Kreuzberg dazu, und irgendwann kommt die Polizei. Szen…
taz: Herr Enkemannn, ihr neuestes Buch heißt „Kreuzberg – das andere
Berlin“. Wie meinen Sie das?
Jürgen Enkemannn: Es geht um eine besondere historisch gewachsene
Konzentration von „Alternativität“ in Kreuzberg, von kulturellen
Gegenentwürfen, verbunden mit einer politischen Protestkultur. Ein Begriff
wie „das andere Berlin“, der im Titel erscheint, ist nicht primär als These
von mir anzusehen, sondern weist auf eine Besonderheit, die über Jahrzehnte
hinweg mit den verschiedensten Etiketten wie „Gallisches Dorf“,
„Protesthochburg“ oder “'Mythos Kreuzberg“ charakterisiert worden ist. …
versuche der Frage nachzugehen, wieso es gerade in Kreuzberg zu dieser
Entwicklung kam.
Welchen Bezug haben Sie selbst zu Kreuzberg?
Ich bin seit den frühen 1960er Jahren in Kreuzberg ansässig und habe somit
vieles von dem, was in dem Buch geschildert wird, selbst erlebt, seien es
Treffpunkte der bohemeorientierten Kunstszene wie Leierkasten, Malkiste und
Nulpe, sei es der Austausch mit türkeistämmigen Bevölkerungsteilen, über
die es ein Kapitel in dem Buch gibt, seien es die Off-Theater der 1980er
Jahre, die Aktivitäten der Hausbesetzerbewegung im gleichen Jahrzehnt oder
mietenpolitische Proteste in jüngerer Zeit. Das habe ich nicht nur erlebt,
sondern auch engagiert mit vorangetrieben.
Sie stellen in dem Buch auch Kreuzberger KommunalpolitikerInnen der letzten
100 Jahre vor. Was verbindet Carl Herz, den jüdischen
SPD-Bezirksbürgermeister von 1926 bis 1933, mit der [1][aktuellen
Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann] oder ihrem Amtsvorgänger Franz
Schulz (beide Bündnis 90/Die Grünen)?
Carl Herz behandle ich in einem Kapitel über “Frühe Impulse für eine
Kreuzberg-spezifische Widerständigkeit“. Es geht also um eine Art
Vorgeschichte und noch nicht um jene Entwicklungslinie Kreuzberger
Besonderheit, deren Beginn erst viel später anzusetzen ist. In einer
Gedenkfeier für den 1933 gewalttätig aus dem Amt vertriebenen
radikaldemokratisch orientierten Carl Herz mit einer Ausstellung im
Rathausgebäude hat sich Monika Herrmann ausdrücklich zu den Positionen
ihres Vorgängers bekannt.
Und Franz Schulz?
Franz Schulz möchte ich im Kontext eines Spannungsverhältnisse erwähnen,
wie es in Kreuzberg zwischen der Verwaltung und verwaltungskritischen
Strömungen, besonders etwa den „Autonomen“, immer wieder typisch war. Er
äußert sich in meinem Buch dazu in einem Interview, das ihn selbst als
einen recht widerständig orientierten Amtsinhaber erscheinen lässt, und
kennzeichnet darin die “Kreuzberger Widerborstigkeit“ als ein tiefes
Grundmisstrauen gegen das, was von oben kommt. Das treffe, so sagt er,
natürlich auch häufig das Bezirksamt und ihn selbst.
Welche Kreuzberger KommunalpolitikerInnen führen Sie noch an?
Ein frühes Beispiel dieser Dynamik ist bereits der selbst aus einer
politischen Widerstandsbewegung kommende und vom Naziregime verfolgte
Kreuzberger Jugendstadtrat Erwin Beck, der im Dezember 1971 in soeben
besetzten Räumen des Bethanien-Komplexes die Rolle eines Vermittlers
eingenommen hat. Für die Rebellen, zu denen in jener Nacht Rio Reiser und
Ton, Steine, Scherben gehörten, verkörperte Beck die „Politik“, die
Gegenseite, und sie wollten ihn zunächst nicht hineinlassen. Aber nur
seinem Einsatz war es letztlich zu verdanken, dass die Polizei abgezogen
ist und ein Bleiberecht für die Räume erwirkt wurde.
Sie behandeln in einem Kapitel ausführlich die heute wenig bekannte
Kreuzberger Boheme- und Subkultur der 1960er Jahre. Welche Bedeutung hat
die für Kreuzberg?
Die Phase der Galerien und Künstlerkneipen, die mit dem Boheme-Begriff in
Verbindung gebracht wurde, sehe ich als ein sehr entscheidendes Vorspiel
für die alternative Entwicklung in Kreuzberg, als eine noch unreflektierte
künstlerisch geäußerte Vorwegnahme späterer Widerstände gegen kulturelle
Zwänge der „Konsumgesellschaft“ im Kapitalismus. Insbesondere die Gründung
der Galerie zinke im Jahre 1959, initiiert von dem Künstler Günter Bruno
Fuchs, war eine Art Urzelle für vieles, was dann als Kreuzberger
Besonderheit wahrgenommen wurde und starke Sogwirkungen hatte.
Ihr Buch endet mit einem abgebildeten Transparent mit der Aufschrift „Wir
holen uns den Kiez zurück“. Ist dieser „trotzig-optimistische Ausblick“ …
Statement gegen auch manches linke Lamento, dass das rebellische Kreuzberg
tot ist und sich die Gentrifizierung nicht mehr aufhalten lässt?
Das lässt sich eventuell so verstehen, aber der Ton in meinen „Ausblicken“
ist zugleich der einer Offenheit. Gentrifizierungstendenzen etwa lassen
sich nicht immer mit Erfolg blockieren, und die Höhepunktphasen der
Kreuzberger Widerständigkeit mögen eher in der Vergangenheit liegen. Aber
sie haben in jüngerer Zeit auch immer wieder neue Anstöße erfahren. Von
Kreuzberg können weiterhin Impulse für Aktionen gegen Rassismus oder gegen
Profitgier von Immobilienspekulanten ausgehen.
3 Jul 2020
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[1] /Monika-Herrmann-ueber-ihr-Amt/!5638449
## AUTOREN
Peter Nowak
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Hans Panhoff
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