# taz.de -- Temporäre Spielstraßen in Berlin: Freie Fahrt für Dreiräder | |
> Die temporären Spielstraßen könnten auch nach Corona bleiben. Drei | |
> Berliner Bezirke setzen so ein Zeichen gegen die Dominanz des Autos in | |
> der Stadt. | |
Bild: Unbeschwertes Spielen mitten auf der Anzengruber Straße in Neukölln | |
BERLIN taz | Wenn Straßen in Berlin gesperrt sind, dann meistens, weil | |
Märkte stattfinden, weil gebaut oder demonstriert wird. Selten wird in das | |
Reich der Autos reingegrätscht, um zu Spielen. Doch das ändert sich gerade. | |
„Corona hat zu einer Spielstraßenrevolution geführt“, sagt Cornelia | |
Dittrich vom Bündnis Temporäre Spielstraßen. In Friedrichshain-Kreuzberg, | |
Neukölln und Pankow werden bereits – meist sonntags – Straßenabschnitte f… | |
Kinder gesperrt. Weitere Bezirke wollen folgen. Lässt sich etwa mit | |
Federball und Kreidemalen die Verkehrshierarchie der autozentrierten Stadt | |
auf den Kopf stellen? | |
Seit der fünfwöchigen Sperrung von Spielplätzen aufgrund von Hygieneregeln | |
bis Anfang Mai bekommt die Idee, Autostraßen zu [1][temporären | |
Spielstraßen] zu erklären, Aufwind. Das dicht besiedelte | |
Friedrichshain-Kreuzberg preschte vor, um trotz Abstandsregeln mehr Platz | |
für Kinder und Eltern zu schaffen: In der Nähe von Spielplätzen wurden 19 | |
Abschnitte für die Sommermonate umgemünzt, wobei aktuell einige wegen der | |
Sommerferien pausieren, weil sich nicht genügend Kiezlots*innen finden – | |
Freiwillige, die die Straßen an den entsprechenden Nachmittagen betreuen. | |
Neukölln zog mit vier Spielstraßen nach. In Mitte sind laut Bezirk derzeit | |
zehn in der Planung. | |
In der Neuköllner Anzengruberstraße kommen nicht nur haufenweise Kinder auf | |
ihre Kosten, die auf der Straße sowie dem angrenzenden Spielplatz spielen: | |
Neben einer Minirampe, über die eine junge Inlineskaterin rollt, sitzen | |
Dutzende Erwachsene in Stuhlkreisen, auf Fenstersimsen und mit Kleinkindern | |
auf Decken. Aus einem Café dudelt Musik. Es wird gegrillt. | |
## Von Anwohner*innen initiiert | |
„Wir sind überrascht, wie gut es läuft“, sagt Bajram Sabani. An der | |
Warnweste des 51-jährigen Anwohners zieht dessen Tochter. Er macht mit, um | |
mit ihr hier sicher spielen zu können, sagt er. Mit rund 20 weiteren | |
Freiwilligen organisiert er die Spielstraße: Er stellt die Schilder des | |
Bezirks auf, spricht mit Autofahrer*innen und lässt im Notfall den | |
Rettungswagen durch. Im Gegensatz zu anderen Straßen ist die Anzengruber | |
nicht vom Bezirk, sondern von Anwohner*innen selbst initiiert. | |
„Dass die Idee aus der Anwohnerschaft kommt, ist der Grundgedanke. Daher | |
müssten die temporären Spielstraßen eigentlich auch anders heißen“, sagt | |
Dittrich vom [2][Spielstraßen-Bündnis]. „Nachbarschaftsstraße wäre ein | |
schönerer Name“, findet sie. Seit nunmehr einem Jahr setzt sich das Bündnis | |
dafür ein, Straßen zu Spielplätzen zu machen – etwas, das beispielsweise in | |
London oder Bremen schon seit Jahren funktioniert. | |
Auch in Berlin gab es temporäre Spielstraßen schon vor Corona. In der | |
[3][Kreuzberger Böckhstraße] darf mittwochs während der Sommermonate | |
gespielt werden. In der Gudvanger Straße in Pankow gibt es aufgrund einer | |
jahrelangen Vorgeschichte und Streit zwischen Anwohner*innen nun die Regel, | |
dass einmal im Monat mittwochnachmittags gespielt werden darf. Die | |
Templiner Straße soll im August starten, zudem gebe es zwei weitere | |
Anwohner*innen-Initiativen in Pankow. | |
## Hoher Verkehrsdruck | |
Mancherorts wird auch geschummelt, könnte man meinen, indem „dauerhafte | |
Spielstraßen“ zu temporären gemacht werden. Man kennt sie, diese blauen | |
Verkehrsschilder, auf denen ein Kind mit einem Ball zu sehen ist: Hier darf | |
gespielt werden. | |
Was umgangssprachlich Spielstraße genannt wird, ist jedoch nur eine | |
„verkehrsberuhigte Zone“. Autos dürfen durchfahren, wenn auch nur mit | |
Schrittgeschwindigkeit. „Ein Versuch, alles zu vereinen“, sagt Dittrich. | |
„Das funktioniert aber in der Stadt, wo hoher Verkehrsdruck herrscht, | |
nicht.“ | |
So, wie in der Hobrechtstraße in Neukölln, wo heute ein großer | |
Kindergeburtstag gefeiert wird. „Autos brausen hier normalerweise mit bis | |
zu 50 Sachen durch“, sagt Stephan Kruse, die blauen Schilder würden nicht | |
beachtet. Der 20-Jährige sperrt die Straße daher über den Sommer jeden | |
Sonntagnachmittag für den Bezirk ab. Anwohnerin Natalja Kramer hilft ihm | |
dabei. Die 32-Jährige hatte sich zu Beginn des Lockdowns in einen | |
Newsletter zur Nachbarschaftshilfe eingetragen und sei darüber zur | |
Warnweste auf der Spielstraße gekommen. | |
## Nicht alle Bezirke dabei | |
„Die meisten Spielstraßen werden gut bis sehr gut angenommen“, sagt Jan | |
Evertz von der Anlauf- und Koordinierungsstelle Öffentliche Räume von | |
Friedrichshain-Kreuzberg. Evertz ist auch in der Wassertorstraße aktiv, wo | |
die Aktion sehr gut ankomme. Beschwerden gebe es wenig. Ausnahme sei die | |
Helmerdingstraße, wo Stellplatzbesitzer*innen einer Tiefgarage unzufrieden | |
gewesen seien. | |
Nach einer offenen Versammlung wurde die temporäre Spielstraße nun verlegt. | |
Alternativen sollte es genügend geben, denn rund 450 Personen haben sich in | |
Friedrichshain-Kreuzberg als Kietzlots*innen registriert, geschätzt die | |
Hälfte sei tatsächlich aktiv, sagt Heiko Rintelen, Co-Gründer von | |
FixMyBerlin, die den Registrierungsprozess mit dem Bezirk durchführen. | |
Wo es genug öffentliches Grün gibt, braucht es auch keine temporären | |
Spielstraßen: Im Vergleich zu anderen Orten in Berlin verfüge | |
Treptow-Köpenick über viele Spielplätze, Grünanlagen und Wälder, wo | |
gespielt werden könne, teilt der Bezirk der taz mit. | |
Auch in Marzahn-Hellersdorf seien keine geplant, da es „dauerhafte Spiel- | |
oder Fußgängerzonen“ sowie „zahlreiche Grünflächen, Innenhöfe, Spielpl… | |
und Parkanlagen“ gebe, heißt es vom Bezirk. Erste | |
Anwohner*innen-Initiativen gebe es in Tempelhof-Schöneberg und | |
Charlottenburg. In den restlichen Bezirken seien keine temporären | |
Spielstraßen in Planung, ergab eine Umfrage der taz bei den jeweiligen | |
Bezirksämtern. | |
## Platz zwischen Mensch und Auto neu verteilen | |
„Wir fänden es toll, wenn sich die Aktion verstetigt – auch baulich“, sa… | |
Christoph Herrmann, der als Freiwilliger in der Neuköllner | |
Anzengruberstraße aktiv ist. Straßenhügel oder Poller könnten dabei helfen. | |
Ob es nächsten Sommer mit den temporären Spielstraßen weitergehen soll, | |
werde sich zeigen, sagt das Neuköllner Bezirksamt: Das Angebot an die | |
Anwohner*innen stehe. Auch Friedrichshain-Kreuzberg lässt verlauten, dass | |
der Bezirk die Spielstraßen während der Winterpause evaluieren wolle. | |
Die Verkehrsstruktur dicht besiedelter Kieze wird durch die monatlichen | |
Straßensperrungen vielleicht nicht direkt umgekrempelt, aber mehr als ein | |
Placebo-Effekt ist es allemal: „Die Akzeptanz der Bevölkerung kann damit | |
getestet werden“, sagt Christoph Herrmann von der Anzengruberstraße. Auch | |
Cornelia Dittrich vom Spielstraßen-Bündnis geht es um mehr als nur ums | |
Spielen: „Durch die Nachbarschaftsprojekte kann eine alternative | |
Straßennutzung entstehen“, sagt sie. Ein Zeichen für eine neue | |
Platzverteilung zwischen Menschen mit und ohne Autos sei so schon mal | |
gesetzt. | |
16 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Spielstrassen-in-Berlin/!5681610 | |
[2] http://www.spielstrassen.de/ | |
[3] /Erste-temporaere-Spielstrasse-in-Berlin/!5614100 | |
## AUTOREN | |
Sophie Schmalz | |
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