# taz.de -- Erinnerungen aus dem Reisetagebuch: Geister im Haus der Königin | |
> Notizen vergangener Reisen können die Rettung sein, wenn man sein Fernweh | |
> nicht ausleben kann. So manches klingt dann aber doch sehr skurril. | |
Bild: Besuch erlaubt: Orango-Nationalpark auf dem Bijagos-Archipel in Guinea-Bi… | |
Mein Vater war Gärtnermeister und liebte es, zu verreisen. Von jeder Tour | |
brachte er ein volles Notizbuch mit nach Hause. „Geistige Notration für | |
schlechte Zeiten“, erklärte er, und wir Kinder schüttelten den Kopf. Als er | |
alt wurde, machten seine Beine nicht mehr mit – die schlechten Zeiten | |
brachen an. | |
Doch nun saß er Tag für Tag an seinem Schreibtisch, studierte seine alten | |
Aufzeichnungen und durchlebte glücklich jede Fahrt ein zweites Mal. Auch | |
heute herrschen ungute Zeiten in Sachen Reisen. Doch auch ich habe über die | |
Jahre Notrationen gesammelt. Und ich teile sie gern: | |
„Noch einmal spuckt der alte Augusto einen Schluck Schnaps aus der | |
Shampooflasche über den Holzpflock und streicht jedem im Kreis mit einer | |
Gerte über den Rücken. Dann holt er das Hühnchen aus dem Korb, klemmt es | |
mit seinen Zehen auf ein Brett und säbelt ihm mit einem Messer den Kopf ab. | |
Federn fliegen, panisch flattert das Tier und verspritzt sein Blut auf die | |
Beine der Umsitzenden, ehe es wie ein auslaufendes Uhrwerk zuckend im Staub | |
verendet. | |
Viele Blutspritzer, viel Glück, deutet Augusto das Ergebnis: Ab sofort sind | |
die Geister der Insel den Besuchern wohlgesinnt. Die Spannung löst sich. | |
Denn auch wenn zwei, drei der Jungs, die im Hotel arbeiten, sich das Lachen | |
kaum verbeißen konnten – die übrigen haben das Geschehen ebenso gebannt | |
verfolgt wie die Besucher aus Europa. | |
‚Wir machen den Weg frei‘ heißt die Zeremonie frei übersetzt. Seit alters | |
werden alle Neuankömmlinge auf Orango damit willkommen geheißen. Sie ist | |
weder Touristenspektakel noch ein besonders geheimer Ritus: Auch der | |
Satellitenschüssel, dank deren das Hotel jetzt ans Internet angeschlossen | |
ist, wurde diese Ehre zuteil. | |
## Königin Pampas Haus | |
Orango ist eine der 77 Inseln, die das Bijagos-Archipel vor der Küste des | |
westafrikanischen Guinea-Bissau bilden. 1931 erkundete der österreichische | |
Ethnologe Hugo Bernatzik die Inseln und drang am Ende sogar dreist in das | |
Haus der Königin Pampa ein. | |
‚An der Wand mir gegenüber thronte ein mächtiger Königsfetisch, unter | |
dessen Vorhang die Seelenfiguren verstorbener Mitglieder der Königsfamilie | |
aufgestellt waren. Reicher und kostbarer Hausrat war überall auf dem Boden, | |
an den Wänden und an der Decke verteilt‘, berichtet er in seinem Bestseller | |
‚Geheimnisvolle Inseln Tropenafrikas‘. | |
Heute ist ein Besuch im Haus der Königin durchaus erlaubt. Das Innere der | |
dunklen Hütte weist keinen Schmuck mehr auf. Im Licht der Taschenlampe | |
ragen ein paar Holzschilder aus flachen Lehmhügeln am Boden: Bancanhapan, | |
Am-Me Landagha, Okinapampa, Paposseco – sieben Könige und Königinnen sind | |
hier begraben. Immer noch werden die Toten im eigenen Haus bestattet. | |
Die Bijagos leben am Rande der Welt, aber sie sind nicht aus ihr | |
herausgefallen. Der Wandel vollzieht sich langsam, aber stetig. Noch tagt | |
der Rat der Alten Männer unter den heiligen Wandwurzelbäumen, und niemand | |
beginnt zu arbeiten, ehe nicht die notwendigen Beschwörungen durchgeführt | |
wurden. Noch klopfen alte Frauen die Rinde des Cajuco-Baums für die | |
traditionellen Bastschürzchen, aber die Jungs ziehen Trikots von Beckham | |
und Ballack vor. | |
Inzwischen leben auch Protestanten in den Dörfern, es gibt einfache | |
‚Discos‘ und plärrende Transistorradios. Noch achten die Menschen darauf, | |
ihre Fetische, Pflöcke mit Tierschädeln etwa, nicht zu berühren, weil dies | |
ihr Leben gefährden würde. Aber die wirklich ‚heiligen‘ Plätze sind für | |
viele Jugendliche inzwischen ganz andere: die, an denen ihr Handy Empfang | |
hat.“ | |
19 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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