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# taz.de -- Die Kunst des Reisens: Dein sechster Sinn!
> Der sechste Sinn des Reisens ist einer für Gelassenheit. Gelassenheit
> gegenüber Verspätungen, Verkäufern, die einem ungültige Banknoten
> unterjubeln.
Bild: Übung in Gelassenheit
Schon rückt es so fern, das Reisen, und wir zweifeln, ob wir uns je wieder
mit der gleichen Unbedenklichkeit in die Welt stürzen werden wie zuvor.
Denn Reisen ist, wie die ganze Zivilisation, aufgebaut auf dem Vertrauen,
dass man dem Nebenmenschen näherkommt, ohne Schlimmes von ihm befürchten zu
müssen. Wann wird dies wieder so sein?
Doch je länger wir zu Hause herumsitzen, umso stärker ahnen wir, was uns
verloren ginge, hätte es mit dem Herumstromern endgültig ein Ende. Uns
fehlten Gerüche, Laute, Berührungen, Input. Unterwegs zu sein, ist das
Erlebnis, das den Kopf fordert und die menschlichen Sinne am intensivsten
anspricht. Die Sinne. Von den bekannten fünf war hier schon die Rede. Fehlt
noch einer: der geheimnisvolle sechste.
Der meint nun aber nicht etwa das Gespür von Reisenden, die aufgrund einer
dunklen Ahnung in letzter Minute ihren Flieger sausen lassen, der dann
prompt abstürzt und alle Insassen in den Tod reißt. Derart Dramatisches ist
mir bisher nicht passiert. Auch einen Instinkt für Sprengminen, Kidnapper
und Huren, die K.o.-Tropfen in die Spätlese kippen, braucht der
Normalreisende eher selten.
Jener sechste Sinn, von dem ich rede, ist der für die Kunst des Reisens.
Ein Gespür für Schönheit beinhaltet er, und reichlich Spass am Genuss. Wer
aufbricht, muss sich begeistern können: Für die roten Sandsteinpfeiler des
Bryce-Canyon in Arizona wie die Eiskathedralen, die an Labradors Küste nach
Süden ziehen. Die mattsilberne Hülle des Guggenheim-Museums in Bilbao muss
ihn ebenso faszinieren wie die zerfallenen Maya-Tempel von Copán.
## Brecht im Hinterkopf
Staunen können muss er, über die Formenvielfalt der Natur wie die
Schöpfungen menschlicher Fantasie – dabei immer schön Brecht im Hinterkopf:
„Wer baute das siebentorige Theben?“ Und nie, nie, nie darf ihm ein Satz
unterlaufen wie: „Ganz nett, dieses Heidschnuckenfilet. Aber Sie müssten
erst mal die Steaks der handmassierten Rinder von Kobe probieren!“
Eine unstillbare Neugier auf Menschen und ihre Eigenheiten gehört dazu: Wie
schaffen es Isländer bloß, sich bei den dortigen Alkoholpreisen die Nächte
in Kneipen um die Ohren zu hauen? Warum scheinen Autofahrer in Baku,
Fußgänger geradezu verbissen zu jagen? Gibt es Prämien? Hassen sie sie?
Nachfragen, nachforschen, nachdenken. Gerade da, wo einem die Freude am
Reisen vergeht: Wie kommen die peruanischen Lehrer eigentlich dazu,
ausgerechnet unsere schöne Reisestrecke zu blockieren? Und was erzählen wir
dem 16-jährigen Jungen in Addis Abeba, der nach Europa will, um mit seiner
Masinko-Geige Geld zu verdienen?
Immer aber ist jener sechste Sinn des Reisens auch einer für Gelassenheit.
Gelassenheit gegenüber Verspätungen, Verkäufern, die einem ungültige
Banknoten unterjubeln – und gegen sich selbst. Ein Reisender ist wie ein
Schwamm. Spürt er, dass seine Poren, die Sinne, verstopfen, ist er nur noch
angeekelt von Dreck, Krach und Gestank, muss er Nachsicht mit sich selber
üben. Und großzügig mal einen Tag am Strand einlegen. Und kann er gar nicht
mehr in die Fremde, so wie jetzt, bleibt er halbwegs gelassen zu Hause.
Offenbar hat er ziemlich viele Facetten, dieser sechste Sinn. Kein Wunder,
dass niemand so ganz über ihn verfügt. Aber Sie und ich, die wir das Reisen
ernst nehmen, wir arbeiten daran – hoffentlich auch künftig.
P.S. Manchmal versagt natürlich auch der erprobteste sechste Sinn. Und man
erwacht mit brummendem Schädel vom Schlangenschnaps, hat eine Stinkwut auf
den Typ, der einen in die Altstadt von Bangkok geschleppt und dann einfach
stehengelassen hat, und kann keine Pagode, keine Nudelsuppe und kein
Lächeln mehr sehen. Was dann? Weiterüben.
29 Jun 2020
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
## TAGS
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Reisen
Guinea-Bissau
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