| # taz.de -- Vorstoß gegen „Rasse“ im Grundgesetz: Warum die Grünen falsch… | |
| > Die Grünen fordern das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen und | |
| > zu ersetzen. Doch die Folgen dieses Vorschlags wären fatal. | |
| Bild: Gegen rassistische Denkweisen: Black-Lives-Matter-Demonstration am 27. Ju… | |
| Die [1][Proteste gegen Rassismus und Gewalt der Polizei] in den USA sind | |
| längst auch in Deutschland angekommen: Tausende Menschen gehen seit dem Tod | |
| von Georg Floyd auf die Straße. Angeregt durch diesen politischen Moment | |
| [2][fordern nun die Grünen], den Begriff „Rasse“ in Artikel 3, Absatz 3 des | |
| Grundgesetzes zu ersetzen. Das hat eine Debatte ausgelöst. Doch warum wird | |
| diese geführt, ohne die Gegenargumente von Schwarzen Expert*innen zu | |
| berücksichtigen? | |
| Was die Grünen hier fordern, mag im ersten Moment fortschrittlich | |
| erscheinen, neu ist das Vorhaben nicht. Bereits vor zehn Jahren forderte | |
| der weiße Menschenrechtler Hendrik Cremer, „Rasse“ ersatzlos aus dem | |
| Grundgesetz zu streichen. Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland | |
| e. V. (ISD) intervenierte gegen die ersatzlose Streichung und kritisierte, | |
| dass die Debatte nicht ausschließlich von Weißen geführt werden dürfte. | |
| Sie schlugen vor, „Rasse“ durch „rassistische Diskriminierung“ zu erset… | |
| Demnach sollte der Absatz wie folgt lauten: „Niemand darf wegen seines | |
| Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und | |
| Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen | |
| oder rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Angefügt werden soll | |
| der Satz: „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene | |
| Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung | |
| bestehender Nachteile hin.“ | |
| Grüne und ISD argumentieren, [3][dass der Begriff „Rasse“ rassistisch sei] | |
| und dass Menschen heutzutage nicht mehr in biologische „Rassen“ eingeteilt | |
| werden könnten. Als Relikt der Aufklärung sei der Begriff mit Leid und | |
| Trauer verbunden. Mehr noch: Es sei nicht nur schmerzhaft, sondern auch | |
| traumatisierend, als Schwarzer Mensch in Deutschland als „Rasse“ | |
| kategorisiert zu werden. Mit jedem Aufrufen des Begriffs würden | |
| Erinnerungen an koloniale und nationalsozialistische Unterdrückung und | |
| Entmenschlichung wachgerufen. In diesem Punkt stimmen sie mit der weißen | |
| Mehrheitsgesellschaft überein, die sich schwertut, ihre historische Schuld | |
| einzugestehen. Doch sind diese emotionalen Gründe richtige Ratgeber, um | |
| eine Grundgesetzänderung zu fordern? | |
| ## Systemische Ideologie und Subjektive Beliebigkeit | |
| Rassismus ist eine herrschaftssichernde systemische Ideologie, die sich | |
| über Jahrhunderte in allen Teilbereichen der deutschen Gesellschaft | |
| eingeschrieben hat: In der Wirtschaft (Kolonialismus und Versklavung), in | |
| der Politik (mit dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1912/1913, | |
| den Nürnberger Gesetzen von 1935 sowie der Migrations- und Asylpolitik), in | |
| Erkenntnis- und Repräsentationssystemen (bewusste oder unbewusste Denk-, | |
| Seh- und Handlungsmuster eines jeden Individuums), in Institutionen | |
| (Polizei, Justiz, Schule, Verwaltungsbehörden etc.), in den Medien und | |
| nicht zuletzt in der Wissenschaft. | |
| Durch [4][Immanuel Kants Rassenlehre] wurde „Rasse“ zu einem greifbaren | |
| Konzept, auf dessen Grundlage Menschen diskriminiert werden konnten. Seine | |
| Richtigkeit wurde nicht angezweifelt, was dazu führt, dass Rassismus bis | |
| heute als strukturierendes und ordnendes Merkmal fortwährend tradiert, | |
| politisiert und reproduziert wird. | |
| Fortschrittlich ist der Vorschlag der Grünen und der ISD vor allem deswegen | |
| nicht, weil er dazu führen würde, dass der historische Kontext von | |
| Rassismus verloren gehe. Bevor überhaupt festgeschrieben wurde, dass | |
| Rassismus strukturell ist und zur Entstehung von „Rassen“ geführt hat (und | |
| nicht umgekehrt). Der Erkenntnisgewinn, dass nur eine menschliche „Rasse“ | |
| existiert, hat nicht zum Fortgang von Rassismus geführt. Und das wird das | |
| Streichen oder Ersetzen von „Rasse“ auch nicht. Vielmehr würde ein | |
| wichtiges Ordnungsmerkmal verloren gehen, das vor allem im Kontext | |
| Schwarzer deutscher Geschichte Relevanz hat. So beispielsweise die | |
| Verwobenheit von „Rasse“ und Nation, warum deutsch überhaupt als weiß | |
| imaginiert wird. | |
| Auch vom Ersetzen des Begriffs durch „rassistische Diskriminierung“ ist | |
| abzuraten. Dies würde dazu führen, dass Rassismus in seiner Komplexität | |
| reduziert wird und „Rasse“ als Kernmoment von Rassismus verfehlt wird. | |
| Stattdessen führe es weg von der Strukturgegebenheit hin zu einer | |
| subjektiven Beliebigkeit, die ebendiese historische Dimension außen vor | |
| lässt. Die Folge wäre, dass rassistische Mythen wie „Reversed Racism“ | |
| (vermeintlicher Rassismus gegen Weiße) und „Deutschenfeindlichkeit“ als | |
| rassistisch eingestuft werden könnten. Vielmehr müssten wir doch | |
| anerkennen, dass „Rasse“ (wie „Geschlecht“) sozial konstruiert ist und … | |
| Endprodukt des Rassismus strukturell und allgegenwärtig ist. | |
| ## Antidiskriminierungslogik | |
| Nur mit der notwendigen emotionalen Distanz wird deutlich, dass das | |
| Antidiskriminierungsrecht Menschen nicht in „Rassen“ kategorisiert, wie es | |
| viele der Kritiker*innen meinen, sondern Schutz vor ebendieser | |
| diskriminierenden Kategorisierung bietet. [5][Auf dem Verfassungsblog | |
| schreiben] die Jurist*innen of Color Dr. Cengiz Barskanmaz und Dr. Nahed | |
| Samour dazu: | |
| „Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zur Disko verweigert wird, geht der | |
| Türsteher nicht davon aus, dass er biologisch der,schwarzen Rasse' | |
| angehört, sondern dass Schwarzer Männlichkeit, wie im Falle von George | |
| Floyd, gefährliche und weitere negative Eigenschaften zugeschrieben werden. | |
| Das ist gemeint, wenn von Rasse und Geschlecht als soziale Konstrukte | |
| gesprochen wird, die zudem mit einander verschränkt sind.“ | |
| Dieses Beispiel zeigt, dass der Rechtsbegriff „Rasse“ ein notwendiges | |
| Instrument ist, um Anti-Schwarzen-Rassismus antidiskriminierungsrechtlich | |
| angehen zu können. Es ist daher existenziell wichtig, „Rasse“ als | |
| widerständigen Begriff anzueignen. Genauso wie wir es in der Vergangenheit | |
| mit vielen Begriffen getan haben. Wie „Schwarz“, was gegenwärtig als | |
| sozialpolitische Selbstbezeichnung auch in der adjektivischen Verwendung | |
| großgeschrieben wird. Falsch wäre es, „Rasse“ mit dem „N-Wort“ | |
| gleichzusetzen, das der Inbegriff von Anti-Schwarzem Rassismus ist. | |
| Zudem ist es zwingend nötig, Schutz vor Mehrfachdiskriminierung | |
| (Intersektionalität) gesetzlich zu verankern. Denn die gesellschaftlich | |
| meist gefährdetsten Personen sind beispielsweise Schwarze Frauen, Schwarze | |
| muslimische Frauen, Schwarze Frauen mit Behinderung oder Schwarze | |
| LGBTQIA*-Personen. Diese Arbeit steht den Jurist*innen noch bevor. | |
| ## Ein Umdenken ist möglich | |
| Den Vorteil, den wir Schwarzen Sozialwissenschaftler*innen gegenüber | |
| den Jurist*innen haben, ist, dass wir das englischsprachige Wort race | |
| verwenden, was beispielsweise ermöglicht hat, Alltagsrassismus auf der | |
| sozialen Ebene (Wohnungs- und Arbeitsmarkt) zu untersuchen. Damit konnten | |
| wir die hier deutlich gewordene Problematik umgehen. Während dem englischen | |
| Begriff eine soziale Definition zugrunde liegt, bleibt der deutsche Begriff | |
| in seinem historisch-biologistischen Entstehungskontext verhaftet, was | |
| letztendlich zur Forderung der Grünen geführt hat. | |
| Doch das kann nicht die Lösung sein! Es wird Zeit, den sogenannten „racial | |
| turn“ in Deutschland einzuläuten. Wir müssen nicht nur Schwarz und weiß, | |
| sondern auch „Rasse“ neu denken. Die Anwendung der „rassischen Wende“ a… | |
| den deutschen Kontext kann für ein kategorienbasiertes | |
| Antidiskriminierungsrecht fruchtbar gemacht werden. So meint etwa der | |
| Jurist Barskanmaz, dass es zwar gewöhnungsbedürftig sei, aber dennoch | |
| konsistent wäre, von „rassischer Diskriminierung“ (racial discrimination) | |
| statt von „rassistischer Diskriminierung“ zu sprechen, was für ihn eine | |
| tautologische Wortbildung sei, da Rassismus und Diskriminierung zwei | |
| negativ besetzte Begriffe sind. Bei „rassische Diskriminierung“ | |
| funktioniere rassisch – wie geschlechtlich, ethnisch, religiös – als | |
| Attribut, um die Diskriminierungsform zu beschreiben. | |
| Dieser Ansatz ist prozessorientiert (und nicht ergebnisorientiert) und | |
| wurde in den USA durch den Schwarzen Soziologen W. E. B. Du Bois zu Beginn | |
| des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaft eingeführt. Der Schwarze | |
| Antirassismusforscher wandte sich dabei von den vorherrschenden | |
| biologistischen Vorstellungen von Race ab, in dem er die soziale | |
| Konstruiertheit der Kategorie aufzeigte. Diese Intervention zog zahlreiche | |
| gesellschaftliche Widerstandspraktiken, wie die Etablierung von sogenannten | |
| HBCUs (Historical Black Colleges and Universities), nach sich. | |
| Deutschland und Europa sind fast 100 Jahre zu spät in dieser Entwicklung. | |
| Um die „rassische Wende“ hierzulande auf den Weg bringen zu können, müssen | |
| Schwarze Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color | |
| langfristig an deutschen Universitäten eingestellt werden, nicht nur, aber | |
| auch in der Antirassismusforschung. Eine offizielle | |
| Antirassismusforschungsstelle muss eingerichtet und langfristig finanziert | |
| werden. Primäres Ziel muss es sein, allgemeine Grundlagen zu schaffen, | |
| Definitionsfragen zu klären sowie Analysetools (weiter-) zu entwickeln. | |
| Darüber hinaus müssen an allen Universitäten Deutschlands Black Studies | |
| implementiert werden, wie die Jusos dies für Berlin fordern. Durch die | |
| strukturübergreifende Institutionalisierung von Schwarzem Wissen aus der | |
| Wissenschaft und Forschung heraus in allen Bildungsinstitutionen (von den | |
| Kindergärten bis zu den Hochschulen), sowie in allen anderen sozialen | |
| Teilbereichen hinein, wäre langfristig ein Umdenken von „Rasse“ zu Race und | |
| damit einhergehend gesellschaftliche Veränderung möglich. | |
| 1 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-dem-Tod-von-George-Floyd/!5690839 | |
| [2] /Aktionsplan-gegen-Rassismus/!5668009 | |
| [3] /Rasse-im-Grundgesetz/!5689395 | |
| [4] /Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764 | |
| [5] https://www.intersectionaljustice.org/press-and-talk/2020-06-17-das-diskrim… | |
| ## AUTOREN | |
| Natasha A. Kelly | |
| ## TAGS | |
| Anti-Rassismus | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Antirassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Begriff „Rasse“ im Grundgesetz muss weg: Rassismus verbieten, aber wie? | |
| Der falsche Begriff „Rasse“ soll aus dem Grundgesetz verschwinden. Die | |
| Suche nach einer sinnvollen Alternative dauert jedoch an. | |
| Geschichte des Rassismus: Das Machtsystem | |
| Rassismus ist auch ein System zur Rechtfertigung ökonomischer | |
| Unterdrückung. Seine Ideengeschichte reicht bis in die Antike und wirkt bis | |
| heute fort. | |
| Debatte um den „Rasse“-Begriff: NS-Relikte raus aus den Gesetzen! | |
| Die Union tut sich schwer, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu | |
| streichen. Auch im StGB gibt es an einigen Stellen Überarbeitungsbedarf. | |
| „Rasse“ im Grundgesetz: Eine rassistische Debatte | |
| Die Grünen fordern, „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu entfernen, nicht alle | |
| sind einverstanden. Beschämend, dass wir darüber debattieren müssen. | |
| Diskriminierung in Deutschland: Verlernen wir Rassismus! | |
| Als Schwarze Frau und weißer Mann sind wir von Rassismus in Deutschland | |
| unterschiedlich betroffen. Doch es geht uns alle an. |