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# taz.de -- Umgang mit Corona in Russland: Buttons mit „Virus besiegt“
> Trotz hoher Infektionszahlen hat der Kreml die Corona-Pandemie in
> Russland für überwunden erklärt – um Präsident Putins Pläne
> voranzutreiben.
Bild: In Moskau schützen sich die Menschen weiter mit Mundschutz
Der Stolz wird auf der Brust getragen; es war schon zu Sowjetzeiten so.
Anstecker für die Pionier*innen, Abzeichen für die Held*innen der Arbeit,
Medaillen für die Vaterlandsverteidiger*innen. Das Festhalten an der
Zurschaustellung des Erreichten, an der Betonung der Zugehörigkeit zu einer
Gruppe wird auch im Russland Putins gern über Anstecker und Bänder
ausgedrückt. „Wir haben das Virus besiegt“, heißt es nun auf Buttons, die
zum Russland-Tag am 12. Juni verteilt wurden.
Auch viele, die ein Krankenhaus nach einer überstandenen Ansteckung mit
Sars-CoV-2 verlassen, bekommen das Abzeichen an die Brust gesteckt. Es sei
ein „weiterer gemeinsamer Sieg“, sagte Moskaus Bürgermeister Sergei
Sobjanin, als er, von einem Tag auf den anderen, nahezu alle Beschränkungen
in der Hauptstadt lockern ließ. Keine Spaziergänge mehr nach Plan, keine
elektronischen Passierscheine für Bus und Auto. Die Cafés sollen öffnen,
die Kindergärten auch. Wie, weiß niemand so genau. „Die Rückkehr zum
vollwertigen Leben“ nannte er das.
[1][Die Zahlen der Corona-Neuinfektionen] liegen derweil russlandweit bei
rund 9.000 Fällen täglich, in Moskau bei knapp 2.000 Fällen. Es ist ein
Sieg des Zynismus. Noch bevor Russlands Präsident Wladimir Putin zu Beginn
der Virus-Ausbreitung die Verantwortung an Regionalfürsten abgab – in der
Hoffnung, all der Ärger über die möglichen Missstände bleibe nicht an ihm
haften –, mauserte sich der loyale wie graue Apparatschik Sobjanin zu einem
hartnäckigen Krisenmanager. Er stimmte nicht in den Chor derjenigen mit
ein, die das Virus als etwas Kurzfristiges betrachteten.
Sobjanin sperrte die Moskauer für Wochen zu Hause ein. Er fuhr den
Überwachungsapparat hoch, ließ auch diejenigen festsetzen, die Schnupfen
und Husten, aber nachgewiesenermaßen kein Sars-CoV-2 hatten, samt der
Verpflichtung, eine App zu installieren, die einen selbst nachts
aufforderte, über den Gesundheitszustand zu informieren und zu garantieren,
zu Hause in Quarantäne zu sein. Den Lockdown nutzte der Staat, um die
Bettenkapazität zu steigern.
Das Zurückdrängen der Krankheit an sich steht nicht auf Platz 1. Auf allen
Stufen wird an den Zahlen herumgeschraubt, die Statistik gerät zuweilen so
absurd, dass ihr nicht zu trauen ist. Wie es um die Ausbreitung des
gefährlichen Erregers im Land wirklich steht, kann niemand belegen. Das
Gesundheitsministerium rät dazu, die asymptomatischen Fälle gar nicht erst
in die Statistik aufzunehmen. Es entsteht der Eindruck, als sei mit der
Aufhebung der strengen Beschränkungen das Virus abgeschafft worden.
Vorsicht sei weiterhin geboten, sagt der Moskauer Bürgermeister.
## Immer weniger halten sich an die Regeln
Nur: Seinen Sätzen schenkt kaum mehr einer Gehör. Drei Wochen nach der
Einführung der Maßnahmen hielten sich die Moskauer an immer weniger Regeln.
Da das Vertrauen in den Staat fehlt, nehmen sich die Russen oft heraus, auf
die Anweisungen dieses Staates nicht zu reagieren. Lediglich die Angst vor
dem Knüppel – den hohen Strafen – ließ sie Sobjanins Vorschriften
einhalten. Sobald die Polizisten nicht mehr kontrollierten, füllten sich
die Straßen. Sobjanin fügte sich der Realität, zumal er auch innerhalb des
Systems unter Druck geriet.
Zu oft hatte er Putins Wünschen, teils auch öffentlich, widersprochen. Der
Bürgermeister knickte ein. Der Mann, der noch wenige Tage zuvor postuliert
hatte, die ersten Lockerungen könnten erst in Betracht gezogen werden, wenn
es nur noch einige Dutzend Neuinfektionen gebe, redet plötzlich ebenfalls
vom „Sieg“. Es ist der russischste aller russischen Begriffe.
Putin waren Sobjanins harte Maßnahmen, die sich prompt auf die
Beliebtheitswerte des Präsidenten auswirkten, längst lästig geworden. Als
die Statistiker*innen den höchsten Wert an Neuinfektionen meldeten,
beendete Putin die von ihm selbst ausgerufenen „arbeitsfreien Wochen“, die
er auf Kosten der Unternehmen – oft kleine und mittlere Betriebe – hatte
austragen lassen. Als die bis dahin höchste Zahl an Toten gemeldet worden
war, verkündete Putin das neue Datum für die verschobene Militärparade.
Diese soll auf den Tag genau 75 Jahre nach Stalins Siegesparade auf dem
Roten Platz stattfinden. Die epidemiologische Situation? „Positive Dynamik“
und „stabile Lage“ lautet die Antwort. Es sind diese Widersprüchlichkeiten,
die für Unsicherheit sorgen; sie lassen das Vertrauen in die Führung weiter
sinken. Der russische Soziologe Grigori Judin bescheinigt Putin, nur noch
ein Präsident der Großmütterchen zu sein. Andere Gruppen erreichten er und
seine Entourage kaum mehr.
Nach der Logik des Kremls kommt der propagandistische Aktionismus mit
überstürzten Lockerungen zur richtigen Zeit. Denn Putins Machterhalt steht
auf dem Spiel. Allein dieser ist für die „etappenweise Öffnung“
ausschlaggebend. In der Lücke zwischen der Erleichterung über leicht
zurückgehende Zahlen an Neuinfektionen und dem Schock über die
wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns wünscht sich der Kreml ein
lautes „Ja“ zur Änderung der Verfassung, mit der Putin auch nach dem Ende
seiner jetzigen Amtszeit weiter an der Macht bleiben dürfte. Der Präsident
bräuchte das Votum des Volkes nicht, es ist juristisch nicht bindend. Aber
er will es, damit sein Verständnis von Demokratie gewahrt bleibt.
70 Prozent sollen in den Wahlpavillons auftauchen, lautete die Instruktion
aus dem Kreml im Januar. Während der Pandemie geben sich die Beamten
weniger ehrgeizig, 55 Prozent reichten auch, heißt es nun. Die als
„Information“ getarnte Pro-Kampagne (ein „Gegen“ ist gar nicht erst
vorgesehen) ist in vollem Gange, Staatsangestellte sollen bis zu vier
Bekannte oder Verwandte präsentieren, die abstimmen würden. Die vorgelegten
Hygienebestimmungen machen Manipulationen noch einfacher, eine effektive
Wahlbeobachtung wird kaum möglich sein. Es soll ein großer Sieg gefeiert
werden – den Stolz über das vermeintlich „besiegte“ Virus inbegriffen.
19 Jun 2020
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## AUTOREN
Inna Hartwich
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