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# taz.de -- Kinder und Corona: Wunsch nach Wahrheit
> Wie ansteckend sind Kinder, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben?
> So einfach ist das nicht zu beantworten – trotz zahlreicher Studien.
Bild: Die Kinder seien die „Verlierer der Pandemie“, kritisieren viele Elte…
Neulich rief eine Mutter verzweifelt bei Wolfgang Kölfen an. Die Schule
ihres Sohnes verlange eine ärztliche Bescheinigung darüber, dass sich der
an Neurodermitis leidende Junge während des Unterrichts nicht ins Gesicht
fassen werde. Andernfalls, so erzählt es der Chefarzt für Kinder- und
Jugendmedizin der Städtischen Kliniken Mönchengladbach, dürfe der Junge das
Schulgebäude nicht betreten; Corona halt, man bitte um Verständnis.
Gegenüber der Schule eines anderen seiner Patienten sollte Kölfen
attestieren, dass das 8-jährige Kind im Klassenraum zwei Stunden still
sitzen könne und sich auf dem Schulhof anderen Kindern nicht nähern werde;
schließlich gelte in der Pandemie der Mindestabstand von 1,5 Metern.
„Es ist irrwitzig“, schimpft Kölfen ins Telefon, „jede Schule definiert
ihre eigenen Regeln, unterrichtet wird mancherorts nur pseudomäßig, und
überall regiert die Angst.“ Der Kinderarzt Wolfgang Kölfen, in weiteren
Funktionen Sprecher der Chefärzte der Kliniken für Kinder und Jugendliche
in Nordrhein-Westfalen, Vizechef des Bundesverbands Leitender Kinder- und
Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands und Delegierter der Deutschen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, kann sich in Rage reden.
Mit der Umsetzung der schrittweisen Wiederöffnung von Schulen und
Kindertagesstätten in Deutschland jedenfalls ist der Mediziner unzufrieden
– wie viele Eltern und zahlreiche seiner Kollegen. Daran ändert auch die
Ankündigung des nordrhein-westfälischen Schulministeriums vom Freitag
wenig, zumindest die Grundschüler im Westen der Republik ab Mitte Juni
wieder täglich zu unterrichten.
Kinder, so die Argumentation des Berufsverbands der Kinder- und
Jugendärzte, der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, der
Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen
Gesellschaft für Krankenhaushygiene in ihren jüngsten Stellungnahmen,
[1][gehörten zu den Verlierern der Pandemie]. Von Anfang an seien ihre
Interessen, Bedürfnisse und Grundrechte missachtet und sie selbst
weggesperrt worden, nicht zu ihrem eigenen Schutz, sondern einzig zum
Schutz Dritter.
Zu Unrecht, wie sich nun auch anhand internationaler Studien zeige: Danach
erkrankten Kinder nicht nur seltener und weniger schwer an Covid-19 als
Erwachsene. Sie seien, anders als bei der Influenza, auch keine
Virusschleudern; innerhalb von Familien etwa infizierten in der Regel die
Eltern ihre Kinder – nicht umgekehrt.
## Schulen und Kitas wieder öffnen
Aus Sicht der Verbände der Kinder- und Jugendmediziner spricht deswegen
vieles dafür, „Schulen und Kitas wieder uneingeschränkt zu öffnen“. Dass
dies nicht geschehe, liege daran, so jedenfalls vermutet Wolfgang Kölfen,
dass politische Entscheider in Deutschland „getriggert sind von einem
bestimmten Virologen und dessen Studien“. Andere Forschungsergebnisse
würden entweder kaum zur Kenntnis genommen oder spielten bei der
politischen Entscheidung über die Lockerungen für Kinder nur eine
untergeordnete Rolle.
Es ist ein Seitenhieb auf – wie unschwer zu erraten ist – den Chefvirologen
der Berliner Charité, Christian Drosten, und die öffentliche
Aufmerksamkeit, die dieser erfährt. Drosten berät auch die Bundesregierung;
seine Studie zur Viruslast bei coronainfizierten Kindern und seine darauf
gründende Skepsis bezüglich Schul- und Kitaöffnungen, dazu später mehr,
machten diese Woche erneut Schlagzeilen.
Und zugleich ist es Ausdruck eines Missverständnisses darüber, was einzelne
wissenschaftliche Untersuchungen zu leisten vermögen. Die Gesellschaft für
Virologie fasste dieses Missverständnis am Donnerstag so zusammen: „Die
weit verbreitete Erwartung einer prompten und endgültigen Wahrheit als
Ergebnis einer Untersuchung ist wissenschaftsfremd.“ Und:
„Wissenschaftliche Evidenz wird in den wenigsten Fällen durch eine
singuläre Studie generiert, sondern durch die vielfache Reproduktion von
Daten mit denselben oder anderen Forschungsansätzen.“
Der Reihe nach. Tatsächlich deuten einzelne Analysen aus China, Frankreich,
aber auch aus dem Survey der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische
Infektiologie, in dem in Deutschland stationär behandelte Kinder mit
Covid-19 erfasst werden, darauf hin, dass die Infektion innerhalb einzelner
Familien, in denen sich die Infektionskette rekonstruieren ließ, in der
großen Mehrzahl der Fälle über die Eltern erfolgte.
Eine bevölkerungsbezogene Querschnittsstudie aus Island wiederum konnte bei
Kindern unter zehn Jahren gar keine Infektion nachweisen. In der Schweiz
vertraten Wissenschaftler nach Analyse der Effekte nichtpharmazeutischer
Interventionen auf die Zahl der Infektionen in 20 Ländern den Befund, dass
Schulschließungen nur den zweitgeringsten Effekt auf die Ausbreitung der
Infektionen hatten. Einen stärkeren Effekt hatte demnach das Schließen von
Veranstaltungsorten und von Geschäften der kritischen Infrastruktur.
Eine Studie von Wissenschaftlern des Nationalen Gesundheitsinstituts aus
den Niederlanden, die in dieser Woche veröffentlicht wurde, kam zu dem
Ergebnis, dass Kinder unter zwölf Jahren bei der Übertragung des
Coronavirus nur eine kleine Rolle spielen. Sie könnten sich zwar
infizieren, die Übertragung aber finde hauptsächlich zwischen Erwachsenen
in ähnlichem Alter und von Erwachsenen auf Kinder statt.
Auch erste Zwischenergebnisse einer Eltern-Kinder-Studie mit 5.000
Teilnehmern in Baden-Württemberg, die der dortige Ministerpräsident und
Studienauftraggeber Winfried Kretschmann (Grüne) während einer
Regierungspressekonferenz Ende Mai in Stuttgart zusammenfasste, freilich
ohne genaue Zahlen zu nennen, zeigen offenbar, so Kretschmann: „Kinder
waren seltener krank und seltener infiziert als Erwachsene.“ Das
Ausbreitungsrisiko sei bei Kindern in Notbetreuung nicht erhöht gewesen im
Vergleich zu Kindern, die während des Lockdowns zu Hause betreut wurden.
Und, so der Regierungschef: „Wir können damit ausschließen, dass Kinder
besondere Treiber des aktuellen Infektionsgeschehens darstellen, jedenfalls
bei diesem Virus.“
## Geringere Ansteckungsgefahr nicht bewiesen
Demgegenüber hatte, und an dieser Stelle kommt der Virologe Christian
Drosten ins Spiel, Mitte der Woche eine Forschergruppe der Berliner Charité
in einer weiterhin vorläufigen, noch nicht in einem begutachteten
Fachjournal publizierten, dafür aber überarbeiteten Rohfassung ihrer Studie
zur Infektiosität von Kindern mitgeteilt: Die von ihnen ausgewerteten Daten
lieferten „kaum Belege für Annahmen“, dass Kinder weniger infektiös als
Erwachsene sein könnten. Die geringere Ansteckungsgefahr durch Kinder sei
insofern nicht bewiesen.
Drosten und sein Team hatten die Virenmengen im Nasen-Rachen-Raum von
Infizierten verschiedener Altersgruppen miteinander verglichen und dabei,
vereinfacht gesagt, herausgefunden, dass infizierte Kinder eine ebenso hohe
Viruslast wie infizierte Erwachsene tragen.
Nachdem es zunächst aus der wissenschaftlichen Community Kritik an der
statistischen Auswertung der Daten gegeben hatte, wird nun auch medial –
geschuldet der Popularität Drostens – die Interpretation der Daten mit
einer Schärfe und in einer Weise diskutiert, als gehe es um absolutes
Wissen.
Lässt sich aus den Ergebnissen schlussfolgern, die Ansteckungsfähigkeit der
Kinder sei ähnlich hoch wie die der Erwachsenen? Ist überhaupt gesichert,
dass Personen mit hoher Viruslast den Erreger tatsächlich stärker
verbreiten? Und vor allem: Wie belastbar ist die Empfehlung des
Drosten-Teams, die uneingeschränkte Öffnung von Schulen und Kindergärten
solle „sorgfältig mit Hilfe von vorbeugenden diagnostischen Tests überwacht
werden“?
## Eine komplexe Herausforderung
„Eine Politisierung von dem, was man selbst tut oder sagt“, beschrieb der
Kommunikationswissenschaftler Markus Lehmkuhl vom Karlsruher Institut für
Technologie unlängst bei einer Pressekonferenz des Kölner Science Media
Center das Dilemma, lasse sich „gar nicht vermeiden in so einer
Gemengelage“, schon gar nicht, wenn ein Forscher dann noch Empfehlungen
äußere, „wozu ja Wissenschaftler ausdrücklich aufgefordert sind“.
Die Herausforderung für politische Entscheider wie für Journalisten, aber
auch für naturwissenschaftliche Laien indes sei nicht weniger komplex, sagt
der Senior-Psychologieprofessor Rainer Bromme von der Uni Münster. Sie
bestehe nicht nur darin, den Überblick über die Vielzahl der Untersuchungen
zu behalten. Sondern auch darin, sich vor Augen zu führen, dass allein
aufgrund unterschiedlicher Studiendesigns, Forschungsfragen und
Voraussetzungen in den verschiedenen Ländern vieles kaum miteinander
vergleichbar, geschweige denn inmitten der Pandemie anderswo reproduzierbar
wäre.
Dazu kommt: Viele der derzeit kursierenden Datenauswertungen sind bloß
vorläufig. Was normalerweise weitgehend in der wissenschaftlichen Fachwelt
– transparent, aber außerhalb des Radars der allgemeinen Öffentlichkeit –
diskutiert wird, steht nun angesichts des Drucks, die Pandemie zu
bekämpfen, unter extremer Beobachtung. Einen „Einblick in den Maschinenraum
der Wissensproduktion“, nennt Bromme das.
Der wissenschaftliche Prozess zur Erforschung der Infektiosität von Kindern
jedenfalls, so viel gilt zumindest als sicher, dürfte keineswegs
abgeschlossen sein, wenn die Kultusministerinnen und -minister der Länder
demnächst über die Zukunft des Schulunterrichts nach den Sommerferien
entscheiden werden.
5 Jun 2020
## LINKS
[1] /Kitas-im-Corona-Lockdown/!5684489
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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