# taz.de -- Krieg um Libyens Hauptstadt beendet: Durchatmen und durchladen | |
> Die regierungstreuen Milizen in Tripolis feiern ihren Sieg über die | |
> Haftar-Rebellen. Nun tobt die nächste Schlacht: um Gaddafis Heimatort | |
> Sirte. | |
Bild: Regierungstreue Kämpfer im eroberten Tarhouna südlich von Tripolis am F… | |
TUNIS taz | Die Stimmung in der libyschen Hauptstadt erinnert an das | |
erfolgreiche Ende des Aufstands gegen Muammar Gaddafi vor bald neun Jahren. | |
Tausende Menschen feierten am Freitag auf dem zentralen Märtyrerplatz das | |
Ende des 14-monatigen Krieges um Tripolis. Die Libysch-Arabische | |
Nationalarmee (LNA) des im Osten Libyens basierten Generals Chalifa Haftar | |
hat sich zurückgezogen, der blutige Belagerungskrieg ist vorbei. | |
Berufsschuldirektor Ali Arashi lebt im Stadtteil Suk Aljuma unweit des | |
Flughafens Mitiga, den die regierungstreuen Milizen vergangene Woche von | |
der LNA zurückerobert hatten. Immer wieder hatten zuletzt Grad-Raketen das | |
Haus seiner Familie nur knapp verpasst. Mehrere Nachbarn starben durch die | |
verirrten LNA-Geschosse, die eigentlich gegen die türkischen Soldaten in | |
Mitiga gerichtet waren. | |
„Dank der türkischen Intervention ist der Krieg vorbei, das Projekt Haftar | |
ist für uns beendet“, sagt der 65-jährige. Er ist mit seinen Enkelkindern | |
gekommen, wie sonst jedes Jahr am 17. Februar, dem Jahrestag der | |
Revolution. Doch von Euphorie ist jetzt nicht viel zu spüren. | |
2011 hatten die Kämpfe um Tripolis nur wenige Tage gedauert. Der jetzt | |
beendete [1][Krieg um die Hauptstadt] hat seit April 2019 über 1000 Tote | |
gefordert, mehr als 190.000 Menschen sind aus dem Kampfgebiet geflohen. | |
„Und auch wenn jetzt Haftar weg ist, die Milizen sind immer noch da“, sagt | |
ein Freund von Ali. | |
[2][Die vier großen Milizen], die die Hauptstadt und auch die Regierung | |
dort kontrollieren, demonstrierten auf dem Märtyrerplatz ihre erbeuteten | |
russischen Waffen, ihren Sieg und ihren Machtanspruch. Doch viele | |
Tripolitaner haben genug von der Machtwillkür beider Kriegsparteien. Da nur | |
wenige Libyer bereit waren, für eine der beiden Seiten zur Waffe zu | |
greifen, musste sowohl General Haftar als auch Ministerpräsident Serradsch | |
ausländische Söldner anheuern, vor allem aus Syrien. | |
Unter den in ihre Häuser zurückkehrenden Familien in Tripolis ist die | |
Stimmung gedrückt. Viele Minen und Sprengfallen in den lange umkämpften | |
südlichen Bezirken sind noch nicht geräumt. Allein am Sonntag gab es zwei | |
Tote und 6 Verletzte in Ein Zara. „Die Kriege der letzten Jahre haben nur | |
Leid gebracht und eine verlorene Generation von jungen Libyern, die keinen | |
Beruf gelernt haben, weil sie bei Milizen gutes Geld verdienen konnten“, | |
sagt Ali Arashi. | |
Die ostlibyschen Soldaten und ausländischen Söldner der LNA ließen in den | |
Städten Tarhuna und Beni Walid südlich von Tripolis, ihren letzten | |
Hochburgen vor dem [3][Totalrückzug], viele schwere Waffen und Munition | |
zurück. Auf sozialen Medien kursieren Videos mit Kämpfern der | |
Einheitsregierung aus Tripolis vor russischen Kampfhubschraubern und noch | |
verpackten schultergestützten Sam- Luftabwehrraketen. | |
## Haftar steht vor einem Scherbenhaufen | |
Lange hatte Feldmarschall Haftar wie der sichere Sieger des Bürgerkrieges | |
ausgesehen. Vor allem die aus den Vereinigten Arabischen Emiraten | |
gelieferten russischen Pantsir-Raketen und chinesischen Wing-Loong-Drohnen | |
garantierten seiner LNA die Lufthoheit. Doch mit dem im November | |
geschlossenen militärischen Beistandspakt zwischen dem türkischen | |
Präsidenten Tayiib Erdogan und dem libyschen Premierminister Fayez | |
Serradsch wendete sich das Blatt. Türkische Militärberater, per Schiff | |
gelieferte Panzer und angeblich mehr als 5000 syrische Söldner brachten | |
Haftars Vormarsch zum Erliegen. | |
Nun steht Haftar vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Während sich seine | |
flüchtigen Kämpfer in Ostlibyen neu formieren, reiste der General am | |
Samstag zusammen mit Aguila Saleh, dem Präsidenten des in Ostlibyen | |
tagenden libyschen Parlaments, nach Kairo – Ägypten ist neben den Emiraten | |
der wichtigste Verbündete der Haftar-Allianz. | |
Bei einer Pressekonferenz mit seinen libyschen Gästen verkündete Ägyptens | |
Präsident Abdelfattah al-Sisi einen ab Montag um 6 Uhr geltenden | |
Waffenstillstand, den Beginn von Friedensverhandlungen in Genf und den | |
Abzug der ausländischen Kämpfer aus Libyen – eine „Kairo-Initiative“, um | |
den Krieg im Nachbarland zu beenden. | |
Haftar und Saleh blieben dabei weitgehend stumm. Ihr Schweigen spiegelte | |
nicht nur ihre kritische Lage wieder, sondern auch ihr angespanntes | |
Verhältnis. Saleh, der 2014 bei den letzten Parlamentswahlen Libyens | |
demokratisch gewählt wurde, schlug bereits vor drei Wochen angesichts der | |
türkischen militärischen Übermacht auf der Gegenseite einen Dialog zwischen | |
allen libyschen Provinzen vor. Doch Haftar will von Dialog mit den | |
„Terroristen in Tripolis“ nichts wissen – schon einen Tag nach Salehs | |
Initiative kündigte der General die Entmachtung des Parlamentes und | |
sämtlicher ziviler Institutionen an. | |
Nun warnen viele Abgeordnete vor einer Militärdiktatur in Ostlibyen. Sie | |
fürchten auch, dass Haftars Kompromisslosigkeit zu einem Angriff der | |
Serradsch-Erdogan-Allianz aus Tripolis auf Bengasi führen wird. In Tripolis | |
gibt man sich von Ägyptens Vorstoß unbeeindruckt. „Wir haben keine Zeit uns | |
mit den Spielchen Haftars zu beschäftigen, er kann sich nur ergeben“, so | |
Innenminister Fathi Bashaga. | |
Saleh versucht daher, eine Sitzung der 200 Abgeordneten einzuberufen und | |
eine Kompromisslösung zu erörtern. Dafür suchen die Parlamentarier derzeit | |
vergeblich Gehör im Ausland. Der Leiter des außenpolitischen Ausschusses | |
des Parlaments, Yousef Yousef Alaguri klagt gegenüber der taz, dass die | |
Diplomaten von EU und UNO die Bemühungen des Parlaments um einen | |
innerlibyschen Dialogs ignorieren würden. | |
„Indem man die gewählten Institutionen und die Zivilgesellschaft ignoriert | |
und nur mit denen spricht, die zu den Waffen greifen, riskiert man, dass | |
aus Libyen eine Art Somalia am Mittelmeer wird“, so ein anderer | |
Abgeordneter aus Tobruk zur taz. | |
„Der Verlierer dieser Eskalation ist die EU“, glaubt Alaguris Mitarbeiter | |
Mustafa Alushaibi. „Wenn sich der Rauch gelegt hat, wird man in Europa | |
feststellen, dass nun die Türkei und Russland an diesem strategisch | |
wichtigen Abschnitt der Mittelmeerküste das Sagen haben.“ | |
## Die Schlacht um Sirte | |
Unklar ist, ob Ägypten und Russland bereit wären, einen Vorstoß der der | |
türkisch-westlibyschen Allianz aus dem Westen Libyens auf die Ölfelder im | |
Osten hinzunehmen. Vieles spricht dagegen. Derzeit befindet sich die | |
Kriegsfront westlich von Sirte an der zentrallibyschen Mittelmeerküste. | |
Bei den Parlamentariern in Bengasi hofft man, dass die Trennungslinie | |
zwischen beiden Kriegsparteien in Sirte gezogen und von Russland oder | |
Ägypten durchgesetzt wird. Dann wäre Libyen erstmal wieder in Ost und West | |
geteilt. | |
Am Sonntag nachmittag war die Schlacht um Sirte in vollem Gange. Die unter | |
dem Schutz türkischer Drohnen vorrückenden Serradsch-Truppen wurden, so | |
berichten Beteiligte der taz, plötzlich von modernen Mig-29-Kampfjets | |
angegriffen. Im zentrallibyschen Jufra, Haftars wichtigster Luftwaffenbasis | |
weiter südlich in der libyschen Wüste, wurden vor zwei Wochen angeblich bis | |
zu 14 solche russische Kampfjets über Syrien eingeflogen. | |
Die von Söldnern geflogenen Jets können nach Meinung von Militärexperten | |
nur mit Unterstützung von Experten der russischen Armee eingesetzt werden. | |
Vor Sirte im Meer liegt derweil eine türkische Fregatte, die gegen Haftars | |
Drohnen über Sirte im Einsatz ist. | |
Sollte Haftar Sirte halten können, entstünde ein Pattsituation: Öl im | |
Osten, staatliche Institutionen im Westen. Sirte ist als Gaddafis | |
Heimatstadt tief mit Misrata verfeindet, dessen Milizen das Gros der | |
Revolutionäre 2011 und auch der regierungstreuen Kämpfer heute stellen. | |
Viele Gaddafi-Anhänger aus Sirte saßen nach der Revolution von 2011 in | |
Misrata im Gefängnis. Später nutzten ehemalige Gaddafi-Regierungseliten die | |
Marke „Islamischer Staat“ (IS) für sich, wie zuvor im Irak, und hielten | |
damit die Misratis aus Sirte fern – bis zur erneuten [4][Rückeroberung | |
Sirtes durch die Misrata-Milizen 2016]. Vor wenigen Monaten ging die Stadt | |
unblutig an die LNA verloren. Nun tobt der dritte Krieg um Sirte. | |
Vielleicht ist es der wichtigste. | |
7 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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