| # taz.de -- Obdachlose in Großbritannien: Ungewisses Schicksal nach Corona | |
| > Während des Lockdowns steckte Großbritanniens Regierung tausende | |
| > Wohnungslose in Hotels. Doch bald läuft das Programm aus. | |
| Bild: Die Zelte von Kelvin, Christopher und Will: Dass viele Läden geschlossen… | |
| LONDON taz | Mit einem Besen kehrt Kelvin die Straßenecke, gegenüber dem | |
| einst für die Armen Londons gebauten Charing Cross Hospital. Die Armen im | |
| Schatten der glitzernden Theaterwelt des Londoner West End leben hier auf | |
| der Straße. Der 42-jährige Kelvin, der 63-jährige Christopher Haddock und | |
| der Mittvierziger Will Freeman hausen hier in einer Zeltgemeinschaft – drei | |
| von zuletzt geschätzt 8.855 Londonern auf der Straße. | |
| Hunger haben die drei nicht. Es gibt sogar mehr zu essen als sonst, | |
| bestätigen sie. Einige Londoner Restaurants, die derzeit für die | |
| Öffentlichkeit geschlossen sind, kochen stattdessen für [1][Obdachlose und | |
| Bedürftige]. Tägliche Essensverteilung gab es schon vorher. Solange die | |
| Touristen wegen der Corona-Pandemie ausbleiben, haben die Helfer sogar den | |
| ganzen oberen Teil des Trafalgar Square übernommen. | |
| In der Zeltgemeinschaft nur fünf Minuten von Trafalgar Square entfernt | |
| erzählt Will Freeman, ein schwarzer schlanker Brite im Moschino-T-Shirt: | |
| „Vor einem Jahr arbeitete ich noch im Bankensektor mit 45.000 Pfund (50.000 | |
| Euro) Jahresgehalt. Meine Miete stieg zweimal innerhalb kurzer Zeit und das | |
| war mehr oder weniger der Beginn meines Lebens auf der Straße.“ | |
| Ist es gefährlich derzeit, mit der Virusgefahr? „Ja, einen Kumpel hat es | |
| erwischt, er heißt Darren“, berichtet Kelvin. Christopher [2][fällt dagegen | |
| etwas Gutes ein]: „Dass wir nicht so oft umziehen müssen, weil die Läden | |
| dicht sind.“ | |
| ## Hotelzimmer als begrenzte Hilfe | |
| Das Schlimmste an der Pandemie ist für diese Obdachlosen nicht das Virus. | |
| Es sind die vom Taschendiebstahl lebenden Drogensüchtigen, die nun mangels | |
| Menschenmassen auf die Obdachlosen losgehen. Man müsse nun mehr als sonst | |
| aufpassen, erzählen die drei. Schon allein deshalb ist ihnen ihre | |
| Zeltgemeinschaft wichtig. | |
| Während des Lockdowns finanzierte die britische Regierung aus einem | |
| Notfonds Unterkünfte für obdachlose Menschen in leerstehenden Hotels. In | |
| England allein konnte so 5.400 Menschen eine temporäre Bleibe vermittelt | |
| werden, 1.300 davon in London. Nicht aber Kelvin, Christopher und Will. | |
| Sie haben die niedrigste Priorität, erklärt Kevin: „Wir sind alleinstehende | |
| Männer. Keiner von uns nimmt Drogen oder hat psychische Störungen.“ Im | |
| Gespräch stellt sich heraus, dass sowohl er als auch Christopher nicht bei | |
| bester Gesundheit sind, womit ihre Bedürftigkeit eigentlich höher | |
| eingestuft werden müsste. Aber sie wünschen sich echte Wohnungen, keine | |
| Heimplätze. „Heime sind immer voller Junkies und Gestörte, nicht für | |
| Menschen wie uns“, sagt Kelvin. | |
| Christopher hält wenig von der Hotelzimmerinitiative. „Ich wusste, dass es | |
| sowieso nur zeitlich begrenzt sein würde. Wozu also all die Umstände mit | |
| der zigtausendsten bürokratischen Prüfung meiner Sachverhalte, so als | |
| kennen mich die Behörden immer noch nicht – sie tun es seit Jahren und | |
| streiten sich darüber, wie sie mich einstufen sollen.“ | |
| In der Kategorie „obdachlos“ befinden sich auch Menschen, die nicht auf der | |
| Straße leben, sondern bei Bekannten oder Angehörigen auf dem Sofa oder im | |
| Frauenhaus auf der Flucht vor Gewalt. Allein in England gab es nach Angaben | |
| des britischen Parlaments im vergangenen Jahr 280.000 solcher Menschen, | |
| darunter 127.890 Kinder in 62.280 Familien. Gegen sie sind Christopher, | |
| Kelvin und Will „weniger bedürftig“. | |
| ## Immer mehr Wohnungslose in London | |
| Und jetzt stellt sich die Frage, ob jene, die vorübergehend in Hotels | |
| untergebracht wurden, bald wieder auf der Straße landen. Denn im Rahmen der | |
| [3][Aufhebung des Lockdowns] soll die Zuständigkeit für die Versorgung von | |
| Obdachlosen wieder an die Kommunen fallen wie vor der Pandemie. | |
| Die Regierung glaubt, dass die Kommunen das aus einem Covid-19-Spezialfonds | |
| bewältigen können. Wohnungsminister Robert Jenrick setzt außerdem „für ei… | |
| Langzeitlösung“ auf eine neue, im Februar ernannte staatliche | |
| Obdachlosenberaterin. Aber was daraus entstehen soll, ist völlig unklar. | |
| An Vorschlägen herrscht kein Mangel. Londons Bürgermeister Sadiq Khan will | |
| mit 44 Millionen Euro Obdachlosenunterkünfte auf den neuesten Stand | |
| bringen, was Corona-Hygienebestimmungen angeht, mit individuellen Klos und | |
| Duschen. In Ostlondon entsteht ein neues Zentrum zur Unterbringung | |
| obdachloser Veteranen. Angeblich wird auch mit Airbnb- und | |
| Hotelanbieter*innen, die derzeit auf dem Trockenen sitzen, verhandelt. | |
| Kann all das reichen, wenn die Zahl der Obdachlosen ständig steigt? Ende | |
| 2019 waren die Zahlen der auf der Straße lebenden Londoner im Vergleich zum | |
| Vorjahr um 25 Prozent angestiegen. Die Zahl steigt auch jetzt, gerade wegen | |
| der Pandemie. Arbeitsplatzverlust, Geschäftsaufgabe oder auch die aus Angst | |
| vor Ansteckung entstehenden Weigerung von Menschen, Betroffene eines | |
| Wohnungsverlusts bei sich aufzunehmen, führen zu neuen Notfällen, sagen | |
| Hilfsorganisationen. | |
| ## Bedingungslose Wohnungen | |
| Aktivisten fordern, das Problem grundsätzlich anzugehen. Jon Sparkes, | |
| Leiter der Kampagne „Crisis“, sagt: „Die Notmaßnahmen zeigten, was mögl… | |
| ist, wenn der politische Wille besteht.“ | |
| Der konservative Abgeordnete Bob Blackman, Co-Vorsitzende der | |
| Parlamentariergruppe gegen Obdachlosigkeit, fordert eine bedingungslose | |
| Vergabe von Wohnungen nach dänischem und finnischem Vorbild. „Es geht | |
| darum, Menschen die auf der Straße schlafen, erst mal eine Wohnung zu geben | |
| und erst danach ihre Bedürfnisse zu prüfen.“ | |
| Diese Idee finden auch Christopher, Will und Kelvin gut. „Ja, es würde echt | |
| helfen“, meint Christopher. „Es waren immer diese Überprüfungen, die mich | |
| am Ende auf der Straße haben sitzen lassen, und das seit sechs Jahren.“ | |
| 25 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn | |
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