| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Selber schuld in Japan | |
| > Gesellschaftliche Regeln sind in Japan streng. Das traditionelle Prinzip | |
| > der Eigenverantwortung ist zur politischen Waffe geworden. | |
| Bild: Aufgrund der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse sinkt in Japan tenden… | |
| Als der 18-jährige Noriaki Imai im April 2004 von einer bewaffneten Gruppe | |
| im Irak als Geisel genommen wurde, löste diese Tat in seinem Heimatland | |
| [1][Japan] eine Hasskampagne aus – nicht gegen die Entführer, sondern gegen | |
| Noriaki Imai selbst. | |
| Der junge Mann hatte unter dem Eindruck der Attentate vom 11. September | |
| 2001 beschlossen, den vom zweiten Irakkrieg (2003–2011) betroffenen Kindern | |
| und Jugendlichen Hilfe zu leisten: Er wollte herausfinden, welche | |
| Auswirkungen der Einsatz von Uranmunititon und die dabei freigesetzte | |
| Radioaktivität hatte. Kaum im Irak eingetroffen, wurde er zusammen mit zwei | |
| anderen Japanern von den „Mudschaheddin-Brigaden“, einer bis dahin | |
| unbekannten bewaffneten Widerstandsgruppe, entführt. | |
| „Sie beschuldigten uns, US-Spione zu sein“, erinnert sich Imai an das Ende | |
| seiner humanitären Pläne und an seine neuntägige Geiselhaft. Nach seiner | |
| Befreiung ließ er sich in einem Krankenhaus in Dubai behandeln. Dort | |
| überbrachte ihm sein Bruder die schlechten Nachrichten: „Wir sind das Opfer | |
| einer Hetzkampagne, wahrscheinlich muss Papa sogar als Zeichen der | |
| Entschuldigung seinen Job aufgeben.“ | |
| Imai, dessen Geschichte den Regisseur Masahiro Kobayashi zu seinem Film | |
| „Bashing“ inspirierte, wurde wie seinen beiden Mitgefangenen vorgeworfen, | |
| er habe ohne „Eigenverantwortung“ (Japanisch: jiko sekinin) gehandelt. Sie | |
| seien freiwillig das Risiko eingegangen, in ein gefährliches Land zu reisen | |
| – warum sollte die Regierung sie mit dem Geld der Steuerzahler retten? | |
| ## Victim Blaming bis in die höchsten Ebenen | |
| „Das ist wirklich leichtsinnig. Das liegt zum großen Teil in ihrer eigenen | |
| Verantwortung“, erklärte Yuriko Koike, damals Umweltministerin und heute | |
| Gouverneurin der Stadt Tokio. „Sie haben selbst entschieden, dort | |
| hinzufahren.“ Die auflagenstarke Tageszeitung Yomiuri Shimbun unterstützte | |
| die Forderung führender Politiker, die Opfer müssten für einen Teil der | |
| Kosten selbst aufkommen. | |
| Imais Familie bekam tausende von Briefen, in denen der junge Mann des | |
| „Diebstahls öffentlicher Gelder“ bezichtigt wurde; er solle „Selbstmord | |
| begehen“, um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Der junge Mann versank | |
| in eine schwere Depression und brauchte Jahre, um sich wieder | |
| zurechtzufinden. | |
| Der Begriff jiko sekinin taucht seit jener Zeit in Diskussionen um so | |
| ziemlich alle sozialen Fragen in Japan auf. Nicht nur Journalisten, die in | |
| Gefahrengebiete reisen, werden beschuldigt, nicht selbstverantwortlich zu | |
| handeln – auch alleinerziehende Mütter, Obdachlose, Patienten mit | |
| Krankheiten, die auf die Lebensweise zurückgeführt werden (wie Übergewicht | |
| oder Lungenkrebs) und Opfer sexueller Gewalt. Victim Blaming ist bis in die | |
| höchsten Ebenen des Staates verbreitet. | |
| Finanzminister Taro Aso meinte 2018: „Ein Freund sagte mir: ‚Warum müssen | |
| wir für die Behandlung von Menschen zahlen, die ständig saufen und keinen | |
| Sport treiben, während ich mein Bestes tue, um fit zu bleiben?‘ Ich glaube, | |
| er hat recht.“ Die Botschaft ist: Wer eine Krankheit wie Diabetes hat, ist | |
| selbst schuld und hätte eben mehr für seine Gesundheit tun müssen. | |
| ## „Eine Schande, Unterstützung anzunehmen“ | |
| Selbst die Betroffenen haben diese Sicht verinnerlicht. Makoto Yuasa, der | |
| sich als Professor an der Universität Tokio gegen Armut engagiert, sagt | |
| dazu: „Fast alle Obdachlosen meinen, sie seien selbst für ihr Elend | |
| verantwortlich und hätten kein Recht auf staatliche Hilfe. Für sie ist es | |
| eine Schande, Unterstützung anzunehmen. Manche verweigern sie, bis ihnen | |
| nichts anderes mehr übrig bleibt.“ Im Jahr 2012 verzichteten 85 Prozent der | |
| Japaner auf ihren Anspruch auf Sozialhilfe. | |
| Shintaro Nakanishi, Soziologieprofessor an der Kanto-Gakuin-Universität in | |
| Yokohama, erläutert: „Man kann sagen, dass jiko sekinin auf das Gegenteil | |
| von Solidarität hinausläuft. Wenn Sie sich in einer schwierigen Situation | |
| befinden, dann ist das Ihre Schuld, und es betrifft niemanden sonst. Sie | |
| sind allein dafür verantwortlich, da wieder herauszukommen, und dürfen | |
| nicht andere Menschen oder staatliche Institutionen um Hilfe bitten.“ | |
| Dieser Eigenverantwortungsdiskurs wurde bereits in zahlreichen Studien | |
| untersucht, vor allem von Soziologen und Philosophen. Die Autoren sind sich | |
| einig, dass sich der Begriff jiko sekinin mit dem Neoliberalismus und der | |
| Verschärfung der Ungleichheit im Verlauf der letzten 30 Jahre | |
| herausgebildet hat. Zum ersten Mal tauchte er Mitte der 1990er Jahre in | |
| Zeitungsartikeln und Regierungsdokumenten auf. Damals erlebte Japan nach | |
| dem Platzen einer Spekulations- und Immobilienblase eine der größten | |
| Finanzkrisen seiner Geschichte. | |
| Ab 2002 lag die offizielle Arbeitslosenquote zum ersten Mal seit 1948 | |
| wieder über 5 Prozent; die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe wuchs | |
| zwischen 1992 und 2002 um 40 Prozent. Die nachfolgenden Regierungen | |
| weichten das Verbot befristeter, prekärer Arbeitsverträge auf, die in Japan | |
| als hiseiki (irregulär) bezeichnet werden. Im selben Zeitraum stieg die | |
| Zahl der hiseiki Arbeitnehmer von 9,5 auf 14,5 Millionen. 2003 verzeichnete | |
| Japan einen traurigen Rekord von 34 427 Suiziden, das waren 56 Prozent mehr | |
| als zehn Jahre zuvor. | |
| ## Lob der Leistungsgesellschaft | |
| Der politisch sehr einflussreiche Rat für Wirtschaftspolitik, ein | |
| Beratungsgremium des Premierministers, erklärte damals, es sei notwendig, | |
| das angeblich allzu egalitäre Gesellschaftsmodell zu korrigieren – als sei | |
| dieses die Ursache für die wirtschaftliche Flaute. Die Ratsmitglieder, zu | |
| denen Hiroshi Okuda, der damalige Toyota-Chef und Vorsitzende des | |
| Arbeitgeberverbands Keidanren, sowie der neoliberale Ökonom Heizo Takenaka | |
| zählten, wollten „eine wettbewerbsorientierte, gesunde und kreative | |
| Gesellschaft“, die „auf individuelle Verantwortung (jiko sekinin) und | |
| Anstrengungen für den eigenen Erfolg“ gründen sollte. | |
| Das Lob der Leistungsgesellschaft und die Kritik am Egalitarismus fand in | |
| dem Begriff jiko sekinin sein ökonomisches und mediales Schlagwort, das | |
| sich den Japanern allmählich einprägte. Der Soziologe Kenji Hashimoto von | |
| der Waseda-Universität in Tokio meint: „Mit dem jiko sekinin konnte man | |
| seine Schuldgefühle angesichts der wachsenden Ungleichheiten abstreifen. | |
| Die Privilegierten konnten sich sagen: ‚Wir haben Erfolg, weil wir uns | |
| angestrengt haben.‘ “ Dazu komme dann die Verachtung für diejenigen, die es | |
| nicht geschafft haben. Menschen, die in Armut geraten, hält man für | |
| Faulpelze. | |
| Dass es gegen diese Entwicklung keinen nennenswerten Protest gab, hat auch | |
| historische Gründe. Kinoshita Mitsuo, Forscher an der Nara-Universität, | |
| erzählt von den Regierenden der Edo-Zeit (1600–1868): „Sie betrachteten das | |
| Elend ihrer Untertanen als ein Problem auf Dorfebene. Erst 1946, auf Druck | |
| der Alliierten, verabschiedete die Regierung in Tokio ein Gesetz, nach dem | |
| sich der Staat um die Ärmsten kümmern müsse. Historisch gesehen hat die | |
| Idee, dass der Staat die Pflicht hat, seine Bürger gegen Armut zu schützen, | |
| niemals in der japanischen Mentalität Wurzeln geschlagen.“ Diese | |
| Fürsorgepflicht des Staats stehe zwar in der Verfassung, könne aber „sehr | |
| schnell in Vergessenheit“ geraten und von Werten wie Selbstständigkeit und | |
| Leistung verdrängt werden. | |
| In die Reden derer, die jiko sekinin ständig im Munde führen, mischen sich | |
| auch Ressentiments und Hass auf alle, die es wagen, ihre Stimme dagegen zu | |
| erheben. „Da es für alle Menschen sehr anstrengend ist, gemäß dem Prinzip | |
| der Eigenverantwortung zu leben, meinen seine unbedingten Befürworter, es | |
| sei egoistisch, nicht die eigene Last zu schultern wie alle anderen auch | |
| und sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen“, erklärt der Soziologe | |
| Nakanishi. | |
| ## Gefahr durch Überalterung der Gesellschaft | |
| Wer sich gegen soziale Missstände engagiert, gehört gemäß dieser | |
| Weltanschauung ohnehin zu den Privilegierten, die brauche man also gar | |
| nicht erst anhören – denn „die Menschen, die wirklich im Elend lebten, | |
| hätten weder die Zeit noch die Mittel für so etwas“. So werden Opfer | |
| gesellschaftlicher Probleme mit dem Ruf „Selber schuld!“ zum Schweigen | |
| gebracht. | |
| Seit dem Shitstorm gegen Imai und seine Familie sind 15 Jahre vergangen. | |
| Seitdem sind die Verhältnisse für Arbeitnehmer immer prekärer geworden. Es | |
| zeichnet sich aber eine weitere Gefahr ab, die die Herrschaft des | |
| Jiko-sekinin-Diskurses vielleicht brechen könnte: die Überalterung der | |
| Gesellschaft. | |
| Im Jahr 2035 wird jeder dritte Japaner älter als 64 Jahre sein, die | |
| arbeitsfähige Bevölkerung wird um 10 Millionen schrumpfen. Da die | |
| japanischen Staatsschulden bereits die Rekordhöhe von 250 Prozent des | |
| Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht haben, will die Regierung bei den | |
| Sozialausgaben sparen, die bis 2040 auf 1,5 Billionen Euro anwachsen | |
| könnten. | |
| Aufgrund der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse sinkt tendenziell auch | |
| das Rentenniveau. Von 2004 bis 2016 schrumpfte die Rente für ein Ehepaar um | |
| 5 Prozent. 2016 lag die Armutsquote bei den über 65-Jährigen bereits bei | |
| 19,6 Prozent – eine der höchsten im Vergleich aller OECD-Staaten.6 Eine | |
| Umfrage des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales vom September | |
| 2017 ergab, dass 42,8 Prozent der obdachlosen Bevölkerung Japans über 65 | |
| Jahre alt waren. | |
| ## Widerstands gegen die Doktrin | |
| Dazu kommt die Stagnation der Löhne infolge der Ausweitung prekärer | |
| Arbeitsverhältnisse, in denen inzwischen 40 Prozent der Arbeitnehmer | |
| beschäftigt sind. Nach Angaben der Wirtschaftszeitung Nikkei sank der | |
| Stundenlohn im Privatsektor zwischen 1997 und 2017 um durchschnittlich 9 | |
| Prozent.7 | |
| Den Unternehmen reicht das nicht. „Das Modell des lebenslangen | |
| Arbeitsplatzes wird verschwinden. In naher Zukunft werden alle nur noch | |
| zeitweise an bestimmten Projekten arbeiten“, meint Yoshihisa Masaki, der | |
| beim Arbeitgeberverband Nippon Keidanren für Arbeitsmarktpolitik zuständig | |
| ist. Auf die Frage, ob dies nicht die bestehenden Ungleichheiten weiter | |
| verschärfen werde, zeigt er sich unbesorgt: „Die Kompetentesten werden mehr | |
| verdienen.“ Doch er gibt zu: „Dies wird keine Welt mehr sein, in der alle | |
| das gleiche Lebensniveau halten können.“ | |
| Ausgerechnet diese düsteren Aussichten könnten ironischerweise das Ende des | |
| Prinzips jiko sekinin bedeuten. Ein lebenslanger Arbeitsplatz, ein hohes | |
| Einkommen, eine auskömmliche Rente – diese Sicherheitsnetze brechen derzeit | |
| für alle oder fast alle Bürger weg. „Außer denjenigen, die ihr ganzes | |
| Berufsleben in einer der großen Firmen verbracht haben, kann heute jeder | |
| bei Rentenantritt in Armut geraten“, erklärt der Soziologe Hashimoto. | |
| Seiner Meinung nach könnte eine Wende eintreten, wenn demnächst ein | |
| Großteil der Japaner, die ein an die herrschenden Regeln angepasstes Leben | |
| geführt haben, in Rente geht. „Selbst die größten Befürworter des jiko | |
| sekinin werden dann merken, dass auch viele aus ihren Reihen in Not geraten | |
| können. Sie werden zugeben müssen, dass sie sich geirrt haben. In dieser | |
| Hinsicht könnte die Überalterung der Gesellschaft die Fundamente des | |
| Jiko-sekinin-Denkens untergraben“, glaubt der Soziologe. | |
| Noriaki Imai hat inzwischen einen gemeinnützigen Verein gegründet, um | |
| Schulabbrechern zu helfen, „vor allem denjenigen, die aus | |
| unterprivilegierten Familien stammen und sich aus allem zurückgezogen | |
| haben“, erklärt er. „Sie sind in der Schule oft gemobbt worden und haben | |
| keinerlei Rückhalt erfahren, weder von ihren Eltern noch von den Lehrern.“ | |
| Imai erinnert sich an die Hetzkampagne, die er selbst erlebt hat: „In Japan | |
| werden Jugendliche, die nicht in den vorgegebenen Bahnen funktionieren, | |
| massiv kritisiert. Dabei brauchen sie in vielen Fällen nur eine geeignete | |
| Umgebung, um ihre Talente entfalten zu können.“ Sein Verein will sie in | |
| Kontakt mit Firmen bringen. „Eigentlich müsste sich der Staat darum | |
| kümmern, aber der unternimmt nichts.“ Was Imai tut, ist auch eine Form des | |
| Widerstands gegen die Doktrin der Eigenverantwortung, die ihm seine Jugend | |
| vergällt hat. Jetzt will er „eine solidarische Gesellschaft schaffen“. | |
| Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
| 24 May 2020 | |
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| Yuta Yagishita | |
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