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# taz.de -- Neuseelands Premierministerin: Die Kommunikatorin
> Jacinda Ardern ist die möglicherweise effektivste Führungskraft auf dem
> Planeten, sagen Kritiker. Nicht mal ein Erdbeben könne sie erschüttern.
Bild: Bei den Wahlen im September unschlagbar? Gut möglich für Jacinda Ardern
CANBERRA taz | Jacinda Ardern sieht an diesem Abend im März müde aus. Im
grünen Sweatshirt, ungeschminkt und ziemlich erschöpft, meldet sie sich
über Facebook. Sie habe eben ihre Tochter Neve ins Bett gebracht, erzählt
sie Millionen von Zuschauern, „und das ist halt nicht kompatibel mit einem
formellen Geschäftsanzug“.
Zwei Sätze später verdonnert sie die Nation zu einigen der frühesten und
härtesten Anti-Corona-Maßnahmen auf dem Planeten. Jacinda Ardern schließt
Neuseeland ab und legt den Schlüssel weg. Geschlossene Grenzen,
Ausgangssperre. Mit Erfolg. Vor zwei Wochen meldet sie, das Land habe die
Pandemie im Griff. Die Türen gehen wieder auf.
Eine Frau im Schmuddelpulli, die Windeln wechselt, dann mit Donald Trump
über Wirtschaftsbeziehungen verhandelt und sogar diesen Chauvinisten
einwickeln kann. Eine amerikanische Zeitschrift beschrieb die 39-jährige
Politikerin jüngst als „möglicherweise effektivste Führungskraft auf dem
Planeten“.
Managementschulen befassen sich mit dem Phänomen. Und Tausende junge Frauen
rund um den Globus sehen in Jacinda Ardern die Zukunft – ihre eigene. Als
Mitglieder einer neuen Generation von Führungskräften, für die Empathie so
wichtig ist wie Entschlusskraft und Durchsetzungswillen.
## Arbeit für Tony Blair
Jacinda Ardens Kommunikationsstil ist das Gegenteil von dem von Donald
Trump: Hoffnung statt Angst, vereinigen statt trennen, Mitgefühl statt
Ablehnung. Vor allem ist die junge Frau „echt“. Für Helen Clark,
Neuseelands Premierministerin zwischen 1999 und 2008, ist es das, was
Ardern so beliebt macht. „Sie predigt nicht zu den Leuten, sondern sie
steht bei ihnen.“
Als junge Frau war Ardern Teil des Forschungsteams von Clarks
Arbeiterpartei. Nach einer Zeit als Freiwillige in einer Suppenküche in New
York ging sie nach London und arbeitete für den damaligen britischen
Premierminister Tony Blair.
Ardern hat einen Abschluss in Politik und Kommunikation; wer aber nach
PR-Beratern und Image-Experten forscht, sucht vergebens. Auch ihre Herkunft
ist bodenständig. Sie stammt nicht aus einer Politikerdynastie, sondern aus
einer Mormonenfamilie. Ihr Vater ist Polizist, ihre Mutter Assistentin bei
einem Verpflegungsdienstleister.
2017 kam Ardern fast per Zufall an die Macht, nachdem klar geworden war,
dass Labour unter ihrem uncharismatischen Chef Andrew Little weitere drei
Jahre in Opposition zur Regierung der konservativen Nationalpartei
verbringen würde.
Die junge Ardern versprach einen Wahlkampf von „schonungsloser
Positivität“. Mit Erfolg: Wochen später fand sie sich in zähen, aber
schließlich erfolgreichen Koalitionsverhandlungen mit der nationalistischen
Partei New Zealand First und den Grünen. Zum Erstaunen vieler hat die
Zweckehe bis heute gehalten.
15. März 2019: Attentat in zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt
Christchurch. Ein australischer Rassist erschießt 51 Muslime beim Beten –
ein Blutbad von historischem Ausmaß für das sonst friedliche Land. Zum
ersten Mal wird Jacinda Ardern wirklich der Weltöffentlichkeit bekannt. Als
Frau im Hidschab.
Statt mit harten Worten scharfes Vorgehen zu markieren, geht sie mit
muslimischem Tuch auf dem Kopf zum Tatort und umarmt die Angehörigen der
Opfer. Muslime seien nicht einfach eine andere Bevölkerungsgruppe, die in
Neuseeland lebt, macht sie klar: „Sie sind wir.“ Ihre Trauerreden sind
Botschaften der Versöhnung.
„Sie geht nicht mit Fehlinformationen hausieren. Sie gibt keine
Schuldzuweisungen, sie versucht, die Erwartungen aller gleichzeitig zu
erfüllen und beruhigt“, [1][zitiert die US-Zeitschrift The Atlantic Van
Jackson], Experte für internationale Beziehungen in Wellington und
ehemaliger Beamter des Verteidigungsministeriums. „Bei keiner Gelegenheit
hat Jacinda jemals einen Journalisten, der eine Frage gestellt hat, ins
Schleudern gebracht und angegriffen“, meint auch Helen Clark. Eine
Kommunikatorin. Eine rundum nette Frau also?
## Sie bleibt bei ihren Prinzipien
Kritiker und politische Gegner machten zumindest nicht lange den Fehler,
Arderns Kommunikationsstil als Zeichen von Schwäche zu interpretieren. Als
sie vor einigen Tagen mitten in einem Fernsehinterview im Parlamentsgebäude
von einem Erdbeben unterbrochen wurde, reagierte sie gelassen: „Es
schüttelt ziemlich hier. Das Parlament bewegt sich etwas mehr als
anderswo.“
Die Unnachgiebigkeit, mit der Ardern die Anti-Corona-Maßnahmen umsetzte,
ist nur das jüngste Beispiel für ihr Durchsetzungsvermögen. Kurz nach den
Wahlen hatte sie bereits klar gemacht: „Die neuseeländische Wirtschaft muss
wieder Neuseeländern dienen.“
Das ist ihre Antwort auf Jahre unter einer von neoliberaler Ideologie
getriebenen konservativen Regierung. Sie kippte deren Pläne für eine
Steuersenkung. Priorität hätten jetzt Gesundheitsversorgung und Ausbildung.
Kaufstopps für Ausländer im überhitzten Immobilienmarkt sollen den
drastischen Wohnraummangel lindern.
Mit einem höheren Grundlohn und einem Unterstützungspaket für Familien will
ihre Regierung die Armut reduzieren. Nach der Attacke in Christchurch
setzte Ardern in Rekordzeit ein Verbot halbautomatischer Gewehre durch.
Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron verurteilte sie
die Betreiber sozialer Medienplattformen wegen der Übertragungen von
Terrorangriffen im Netz.
Doch vor allem ihr Ziel, dem zerstörerischen Umgang mit der Natur durch die
mächtige Landwirtschafts- und Milchindustrie ein Ende zu setzen, bringt
alteingesessene Interessen und Privilegien ins Wanken.
Doch Ardern bleibt bei ihren Prinzipien. Im vergangenen Jahr
veröffentlichte sie den ersten Haushaltsplan der westlichen Welt, der das
Wohlbefinden der Bevölkerung als oberstes Ziel hat, nicht primär
wirtschaftliches Wachstum.
Nett sein und gleichzeitig hart durchgreifen kommt bei den Wählern an.
Neueste Umfragen zeigen, dass Jacinda Ardern nach der Coronakrise wieder
ganz oben steht – vielleicht unschlagbar bei den Wahlen im kommenden
September. Nicht, dass sie zerbrechen würde, wenn sie den Job verlöre. „Wir
sind alle ersetzbar“, meinte die Politikerin jüngst. Sie hätte dann mehr
Zeit für ihre Tochter und ihren Partner Clarke Gayford. Im Moment wechselt
meistens er die Windeln.
30 May 2020
## LINKS
[1] https://www.theatlantic.com/politics/archive/2020/04/jacinda-ardern-new-zea…
## AUTOREN
Urs Wälterlin
## TAGS
Jacinda Ardern
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